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20230211 Krone Bunt Windräder zu Panzern? Das Jahr der Vorentscheidung in der und für die Ukraine Wehrschütz

Kronen Zeitung
Berichte Ukraine


Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass Russland personell wie materiell das größere Potential und die berechenbareren Verbündeten (China, Nordkorea, Iran etc.) aufweist als die Ukraine; sie ist auf den Westen (USA/EU) angewiesen, die bisher die Ukraine eher nach dem Motto „Zum Leben (Siegen) zu wenig, zum Sterben zu viel“ unterstützt haben. Diese Hilfe wird heuer mehrfach auf die Probe gestellt. Während in den ersten zwei Jahren des Krieges der militärische Aspekt dominierte, treten nun zunehmend auch politische Themen in den Vordergrund. Dazu zählen Wahlzyklen in Europa, wie die Wahl zum EU-Parlament sowie nationale und regionale Wahlen; sie werden darüber Aufschluss geben, wie stark noch die Unterstützung jener Parteien ist, die die Führung in Kiew bisher ohne sichtbare Versuche einer Verhandlungslösung unterstützt haben und unterstützen.
Die größte Bedeutung kommt der Präsidentenwahl in den USA zu; derzeit ist deren Ausgang offen, doch zwei Punkte können festgestellt werden. Das ist erstens die Gefahr einer massiven Polarisierung in den USA unabhängig von der Frage, wer gewählt wird. Zweitens droht den USA eine strategische Überdehnung, denn neben der Ukraine gibt es den Kriegsschauplatz im Nahen Osten, die Bedrohung der Schifffahrtsroute am Roten mehr sowie das umfassende Ringen mit China um die Vormachtstellung in der Welt.
Unwahrscheinlich ist, dass die USA und die Staaten der EU die Ukraine fallen lassen; zu wichtig ist die Existenz dieses Staates für die Sicherheit in Europa; darauf deuten auch Verhandlungen zwischen Kiew sowie Berlin, London und Paris über sogenannte Sicherheitsgarantien hin, doch Deutschland und andere Staaten in der EU werden weit mehr in ihre Rüstungsindustrie investieren müssen, um mögliche Ausfälle amerikanischer Waffenlieferungen ausgleichen zu können. Ob in den postheroischen Völkern Westeuropas die Bereitschaft dazu besteht - nachdem 30 Jahre lange aus Schwertern Pflugscharen geschmiedet wurden - nun quasi aus Windrädern Panzer zu formen, bleibt abzuwarten. Fraglich ist, wie sehr durch Warnungen führender NATO-Militärs, eine Bedrohungswahrnehmung und dann ein Bedrohungsbewusstsein in den Völkern (West-)Europas erzeugt werden können. Für die „Überzeugungsarbeit“ könnte es – abgesehen von Polen, dem Baltikum und Nordeuropa – schwierig sein, Russland als Gefahr für Berlin, Wien, Paris und Rom darzustellen, wenn seine Streitkräfte nicht einmal Odessa, Kiew und Lemberg einnehmen können. Hinzu kommt, dass Umfragen in EU-Staaten zeigen, dass etwa das Problem der Migration immer zentraler wird, je weiter weg das Land vom ukrainischen Kriegsschauplatz liegt.
Damit sind wir zurück in der Ukraine; ihre politische Lage prägt derzeit der Machtkampf zwischen Präsident Volodimir Selenskij und Valerij Saluschnij, dem populären Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte. Sein Ausgang war zu Redaktionsschluss noch offen. Zweifellos spielt dabei das Sprichwort eine Rolle: „Der Sieg hat viele Väter, und die Niederlage ist ein Waisenkind.“ Wer will schon am Misserfolg der Sommeroffensive schuld sein. Doch bei diesem Konflikt dürfte es um grundlegende militärische und politische Fragen gehen, von der ukrainischen Rüstungsindustrie über strategische Planungen sowie die zusätzliche Mobilisierung von Soldaten. So geht es um die Aufbringung von 400.000 Männern und Frauen, wobei deutliche Druck auf ins Ausland geflohene Wehrpflichtige ausgeübt werden soll, in die Heimat zurückzukehren. Auch politisch werden die kommenden Monate spannend sein. Bis Ende März hätte die Wahl des ukrainischen Präsidenten stattfinden müssen, dessen Amtszeit am 31. Mai endet. Zweifellos gibt es massive und objektive Gründe, die gegen Wahlen sprechen. Doch auf den St. Nimmerleinstag werden diese Wahlen wohl nicht verschoben können, zumal kommendes Jahr auch die Parlamentswahl fällig ist, und Selenskij bereits jetzt von einem „Neuanfang“ sprach, der in Staat und Militär nötig sei.
Unabhängig davon steht die Ukraine vor immer größeren Herausforderungen je länger der Krieg dauert; dazu werden danach die hunderttausenden Veteranen und die zehntausenden Kriegsinvaliden sowie ihre Familien und Witwen und Waisen zählen. Für diese Gruppen sowie für einen endlich erfolgreichen Kampf gegen die Korruption gilt es ebenso praktikable Maßnahmen und Vorbereitungen zu treffen, damit nicht für die Ukraine das zynische Sprichwort gilt: „Genieße den Krieg, der Friede wird fürchterlich!“

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