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20240109 Kleine Zeitung Ausblick Ukraine und Krieg Wehrschütz

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Kleine Zeitung
Berichte Ukraine


Was die Streitkräfte betrifft, so zeigt der Krieg in der Ukraine nach zwei Jahren, dass es keiner Seite gelungen ist, die jeweils andere Armee entscheidend zu schwächen. Auch die Eroberung des Landes durch Russland aber auch die Rückeroberung besetzter Gebiete durch die Ukraine sind klar hinter den Erwartungen Moskaus und Kiews zurückgeblieben. Trotzdem hat sich die Stimmung binnen Jahresfrist spürbar gewandelt; so deklarierte Präsident Volodimir Selenskij 2023 zum Jahr des Sieges, eine Prognose, die sich bereits nach dem Scheitern der Sommeroffensive als falsch erwiesen hatte. Zwar erzielte die Ukraine mit Drohnen und Raketen gegen die russische Schwarzmeerflotte sowie gegen das russische Hinterland durchaus punktuell spektakuläre Erfolge, doch eine Kriegswende wird dadurch nicht erreicht. Zwar verzeichnet auch die russische Winteroffensive bisher keine größeren Geländegewinne, doch materiell und personell liegt der Vorteil auf russischer Seite, die auch hohe Ausfälle an Soldaten in Kauf nimmt, um Geländegewinne zu erzielen.
Der Krieg in der Ukraine ist somit weiter ein Abnützungskrieg, ob er allerdings auch ein Stellungskrieg mit einer Art Pattsituation bleiben wird, hängt – trotz aller Bemühungen um den Aufbau einer breiteren Rüstungsindustrie in der Ukraine – vor allem von weiterer westlicher Ausbildung und von einer stabilen und massiven westlichen Waffenhilfe ab. Nach Schätzungen von US-Experten benötigt die Ukraine in diesem Jahr für eine (lokale) Überlegenheit bei der Artillerie am Gefechtsfeld 2,4 Millionen Granaten; doch die USA und ihre Partner haben Probleme, die Hälfte davon aufzubringen. Hinzu kommen der massive Bedarf an Artilleriegeschützen, sowie ein Sammelsurium an Waffen und Fahrzeugen, die wegen ihrer großen Vielfalt an Ersatzteilen, die Instand-setzung vor massive Herausforderungen stellt. Bleibt noch der notorische Mangel an Luftabwehrsystemen, der sich bei massiven russischen Angriffen mit Drohnen und Raketen für die Ukraine wieder schmerzlich bemerkbar macht. Im Gegensatz dazu kann die „russische Dampfwalze“ nicht nur auf eine eigene Kriegswirtschaft setzen, sondern auch auf beträchtliche Unterstützung durch China, den Iran sowie Nordkorea. Außerdem lernt die russische militärische Führung aus ihren Fehlern; ihre neuerliche Unterschätzung könnte fatal sein.
Für die Ukraine ist in den kommenden Monaten jedenfalls Verteidigung angesagt; ebenfalls im Gange ist der Aufbau neuer militärischer Verbände, um später wieder offensiv werden zu können. Dazu braucht Kiew für seine Armee Planungssicherheit durch westliche Waffenlieferungen und nicht durch Reden von einer „Zeitenwende“, der zu wenige Taten folgen! Doch auch politisch ist 2024 ein Schlüsseljahr. Dazu zählen die Wahlen zum europäischen Parlament im Juni und die Präsidentenwahl im November in den USA. Sie werden zeigen, ob russische Erwartungen einer folgenreichen Ukraine-Müdigkeit realistisch sind. Doch es geht nicht nur um Wahlen, sondern generell darum, ob die Ideologie der „liberalen Hegemonie“ nun zu einer strategischen Überdehnung der USA führt, die mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, mit der Krise im Roten Meer sowie mit der möglichen Auseinandersetzung mit China (um Taiwan) konfrontiert sind.
Nicht realistisch sind somit Hoffnungen auf Friedensverhandlungen im heurigen Jahr; zu weit sind die Positionen zwischen Moskau und Kiew auseinander, zu überzogen sind die offiziellen Forderungen Russlands, die über die Halbinsel Krim und das Donezbecken hinausreichen. Und damit kehren wir zu Carl von Clausewitz und seinem dritten Punkt des Kriegsplanes zurück, der darin besteht, den Willen des Feindes zu brechen. Dieses Ziel hat ebenfalls keine der beiden Kriegsparteien erreicht, doch, wie schreibt Clausewitz: „Wenn der Gegner unseren Willen erfüllen soll, so müssen wir ihn in eine Lage versetzen, die nachteiliger ist als das Opfer, welches wir von ihm fordern.“ Das ist bisher keiner Kriegspartei gelungen, doch 2024 könnte zum Jahr der Vorentscheidung im Krieg in der Ukraine werden, dessen militärischer und politischer Kulminationspunkt heuer erreicht werden dürfte.

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