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Lügen in Kriegszeiten

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Zur Mahnung – Lügen in Kriegszeiten

 

„Lüge in Kriegszeiten“ („Falshood In War Time“) lautet der Titel des Buches, das der britische Adelige Arthur Ponsonby (1871 – 1946) im Jahre 1928 veröffentlicht hat. Darin beschreibt er am Beispiel des Ersten Weltkrieges Lügen und Propaganda, die vor allem die Alliierten gegen Deutschland eingesetzt haben; diese Propaganda war weit stärker als die deutsche und österreichische, doch einige Fälle behandelt der Brite ebenfalls zum Abschluss seines Buches, das nach wie vor im Handel ist. Zu der weitverreitenden Gräuelpropaganda zählten Behauptungen, der deutsche Kaiser würde belgischen Kindern die Hände abhacken. Auch andere Gräuelmärchen betrafen bereits damals vor allem Kinder und Babys; sie wurden bis hin zum Golfkrieg der USA eingesetzt, geht es doch darum, die eigene Bevölkerung nicht nur kriegsbereit zu machen, sondern auch während des Krieges bei der Stange zu halten, damit die Bürger bereit waren und sind, alle Entbehrungen zu ertragen, die der Krieg mit sich brachte.

Während des Ersten Weltkrieges gab es nur Telegraph, Flugblätter und als Massenmedium die Zeitungen. Journalisten hattes es daher einfacher; sie mussten nicht einmal weit Reisen, um Geschichten zu erfinden, etwa wiederum über ein armes Baby, das dann eine derartige Welle der Hilfsbereitschaft auslöste, dass der Journalist Probleme hatte, die Sache zu vertuschen. Das Baby wurde auf weniger dramatische Weise journalistisch ins Jenseits befördert, und die humanitäre Hilfe erfüllte wenigstens anderswo ihren guten Zweck. Wer das unrühmliche politische Ende der ukrainischen Ombudsfrau für Menschenrechte und ihrer Tochter nachrecherchiert, könnte doch glatt an das Buch des Briten denken – mit dem löblichen Unterschied, dass ukrainische Medien in diesem Fall selbst und sehr rasch tätig geworden sind.

Doch auch einfache Fehler bei der Übersetzung aus dem Deutschen – ob bewusst oder unbewusst, führten im Ersten Weltkrieg zu Falschmeldungen, die zur Propaganda benutzt wurden; das könnte vielleicht doch zur Frage führen, wie viele Mitglieder mancher Redaktionen Russisch sprechen, von Ukrainisch ganz zu schweigen. „Google-Translate“ ist meiner Ansicht nach keine Alternative zur Landeskenntnis, die ohne Sprachkenntnis nicht wirklich möglich ist. Etwas mehr militärischer Sachverstand könnte vielleicht auch nicht schaden, wenn es zu bewerten gilt, ob Russland mit 100.000 Soldaten die Ukraine erobern kann oder nicht, oder wenn der ukrainische Präsident eine Offensive ankündigt, für die er eine Million (!) Soldaten aufbieten will, ohne auf Gastarbeiter aus der Volksrepublik China zurückzugreifen.

In diesem Krieg Russlands gegen die Ukraine ist eine Frage völlig unstrittig, jedenfalls bei „uns“ im Westen – das ist die Frage, wer den Krieg begonnen hat. Doch für die Verletzung von Internationalem Humanitären Völkerrecht und für die Verletzung von Menschenrechten gibt es keine Rechtfertigung, für keine Konfliktpartei, und da setzt dann die enorme journalistische Herausforderung ein, wie das Beispiel des Beschusses einer Strafanstalt/eines Gefangenenlagers zeigt, das auf dem Gebiet der prorussischen Separatisten der sogenannten „Volksrepublik von Donezk“ im Ort Olenovka/Elenovka liegt. Ende Juli 2022 starben bei diesem Beschuss etwa 50 Gefangene, vor allem des ukrainischen Bataillons Asov, mehr als 70 wurden verletzt. Moskau/Donezk und Kiew beschuldigten einander sehr rasch mit mehr oder minder plausiblen aber jedenfalls nicht rasch und leicht überprüfbaren „Argumenten“, den Angriff durchgeführt zu haben. In den sozialen Netzwerken wiederum traten Experten gegeneinander an, die anhand von Bildern des zerstörten Lagers zu völlig gegenteiligen Schlussfolgerungen kamen. „Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten“, lauten die Schlussverse von Goethes Gedicht „Diner zu Coblenz im Sommer 1774; der Dichterfürst speiste damals zwischen zwei hochgelehrten Persönlichkeiten, und soll sich mehr dem Essen als dem Disput der Gelehrten gewidmet haben. Dieses Privileg ist uns Journalisten äußerst selten vergönnt; im gegebenen Fall entschied ich mich beim Liveeinstieg in der ZiB1 die Positionen der Konfliktparteien darzustellen und festzustellen, dass ohne (internationale) Untersuchung vor Ort eine klare Bewertung des Vorfalls jedenfalls derzeit nicht möglich ist. Für mich ist das keine Ausrede, sondern Journalisten sollen auch klar sagen, wenn sie etwas nicht wissen oder zum gegebenen Zeitpunkt nicht wissen können.

Gott sei Dank gibt es in der Ukraine trotz aller Militärzensur noch den Zugang zu „Telegramm-Kanälen“, die ein vielfältiges Lagebild ermöglichen, wenn man der beiden wichtigsten Sprachen mächtig ist! Möglich ist dadurch auch die Überprüfung des „westlichen“ Narratives, das sich vom russischen völlig unterscheidet, das – angesichts der Haltung Chinas, Indiens sowie afrikanischer und lateinamerikanischer Staaten - wohl in der Welt weiter verbreitet ist, als das westliche. Das sagt nichts über die Wahrheit aus, sollte uns aber bei der Berichterstattung zu denken geben – etwa über den „G7-Gipfel, der eben nicht mehr die „Großen 7“ umfasst, sondern eine Weltmacht und sechs Mittelmächte.

Doch im Westen hat die Ukraine den Propagandakrieg über die Deutungshoheit des Konflikts klar gewonnen, und so wurde dieses westliche Narrativ bei uns auch medial in den Rang einer Staatsreligion erhoben, das seinen endgültigen Sieg am Schlachtfeld aber noch nicht davongetragen hat, denn zu diesem Narrativ zählen auch die nicht immer wirklich stichhaltigen militärischen „Analysen“. Doch Medien lieben nun einmal die eschatologische, neutestamentarische Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis. Die neue Pilgerstätte heißt nun Kiew, wo der zürnende Zeus des postmodernen laizistischen Zeitalters in seinem grünen Hemd thront, täglich die „Geheime Offenbarung“ über Video verbreitet wie weiland Donald Trump über Twitter. Doch im Gegensatz zu Trump ist Selenskij nun nicht nur bei den Medien der Superstar, der sich insbesondere durch Waffenlieferungen und weitere Sanktionen milde stimmen lässt.

Vergessen haben westliche Medien offensichtlich, dass dieser Präsident und sein Team noch bis zum 23. Februar im Westen wegen mangelnden Kampfes gegen die Korruption nicht besonders populär waren – ein Beigeschmack der ukrainischen Wirklichkeit, der derzeit zwangsläufig überdeckt wird, den aber auch Journalisten im Mund haben sollten, wenn es denn dereinst um die Finanzierung des Wiederaufbaus und die Kontrolle diese Mittel gehen wird.

Doch zurück zur Realität des Krieges, die dadurch gemildert wird, dass nun die Versorgung mit Treibstoff viel besser und die Internetverbindungen auch dank Elon Musk weiter stabil sind. Aber es gibt Wermutstropfen: Zu allen trotzdem vorhandenen logistischen Herausforderungen und Fragen der Sicherheit des Teams kommen in Kriegszeiten auch noch die Einschränkung der Medienfreiheit auch in der Ukraine durch die Militärzensur und sogenannten Maßnahmen zur Sicherheit strategischer Objekte. Das bedeutet beispielsweise, dass ich um eine Sondergenehmigung ansuchen muss, weil ich IN einem Restaurant drehen will, nur weil es im Regierungsviertel und bei einer Straßensperre liegt. Vom zentralen Raum des Restaurants ist nichts davon zu sehen, doch es muss Bürokratie herrschen, auch wenn die Welt zugrunde geht, wobei in den Städten, die wie Charkiw oder Kramatorsk tatsächlich unter massivem Beschuss liegen, es viel weniger Kontrollposten gibt als im derzeit recht ruhigen Kiew. Gemildert oder verschärft wird die Militärzensur – je nach Einstellung von Politik, Bürokratie oder Militär zum Entsendestaat oder Journalisten – durch das postsowjetische Prinzip: „Für meine Freunde alles, für meine Feinde das Gesetz!“ So werden plötzlich Zugänge gewährt und Drehs möglich, die man auf dem „Dienstwege“ erst nach Wochen bekommen hätte – wenn überhaupt.

So zählt eben der Zugang zu tatsächlich relevanten Informationen oder auch zu Gesprächspartnern, die - wenn sie wirklich etwas wissen, eher schweigen als reden, jedenfalls nicht vor der Kamera und dem Mikrophon, zu den großen Herausforderungen auch in diesem Krieg. Daher ist es für einen Journalisten von großer Wichtigkeit – gerade bei all der Informationsflut auch genau darauf zu achten - worüber nicht oder kaum berichtet wird! Ein Paradebeispiel dafür sind die Zahlen der Gefallenen und Verwundeten der ukrainischen Streitkräfte und in gewisser Weise auch der Russen. Denn schließlich geht es um die Frage, wer unter welchen Voraussetzungen in diesem Abnutzungskrieg länger durchhalten kann. In diesem Zusammenhang ist es für mich als Journalist enorm wichtig, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass alle Kriegsparteien bestrebt sind, uns zu manipulieren, bzw., das unser Wissen endlich und Wahrheit von Lüge vor allem dann sehr schwer zu unterscheiden ist, wenn Angaben nicht oder kaum zu überprüfen sind.

Von dem eingangs zitierten Arthur Ponsonby stammt auch der berühmte Ausspruch: „Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit“. Dazu zitiert er in seinem Buch auch einen passenden Reim in deutscher Sprache: „Kommt der Krieg ins Land – Gibt Lügen wie Sand.“

Ob die berühmten 10 Prinzipien der Kriegspropaganda von ihm selbst verfasst oder in Anlehnung an sein Werk formuliert wurden, konnte ich nicht feststellen. Diese 10 Punkte galten nicht nur für den Ersten Weltkrieg, sondern sie gelten bis heute:

1. Wir wollen den Krieg nicht

2. Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung

3. Der Führer des Gegners ist ein Teufel

4. Wir kämpfen für eine gute Sache

5. Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen

6. Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich

7. Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm

8. Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache

9. Unsere Mission ist »heilig«

10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter

Journalisten sollten grundsätzlich Ponsonbys Buch als Fallbeispiel aber auch deshalb lesen, um sich dieser Erscheinung nicht nur in Kriegen bewusst zu sein, wobei es nicht zuletzt gilt, Punkt 10 standzuhalten – Twitter-Blase hin oder her. Ähnlichkeiten mit Kriegen in den vergangenen 30 Jahren sind nicht zufällig, sondern unvermeidlich. Daher bin ich in meiner Berichterstattung auch zurückhaltend, vor allem wenn es um Gräueltaten geht, die Politiker dann sofort medial „ausschlachten“. Fast 20 Jahre mussten wir zurecht von den mutmaßlichen Kriegsverbrechern Radovan Karadjic und Ratko Mladic schreiben, ehe nicht das Haager Tribunal für das ehemalige Jugoslawien seine Urteile gefällt hat. Diese journalistischen Standards müssen auch für die Ukraine gelten - nicht aus Sympathie für eine Kriegspartei, sondern aus langjähriger Erfahrung und der intensiven Befassung mit diesem Thema.

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