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Ukraine zwischen Neutralität NATO und Russland

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Kronen Zeitung
Berichte Ukraine

Als die Sowjetunion im Dezember 1991 nach Monaten der Agonie zerfiel, betrat plötzlich ein Staat die weltpolitische Bühne, der de facto etwa 250 Jahre lang nicht bestanden hatte – die Ukraine. Doch dieses einstige „Grenzland“ war nicht nur irgendein Nachfolgestaat, sondern der flächenmäßig größte Staat Europas und die drittgrößte Atommacht der Welt. Die Zukunft dieser 2000 Atomwaffen, nicht aber die außenpolitische Orientierung, war daher zunächst die Kernfrage, die sich um die Ukraine drehten. Dabei sprachen das Russland unter Boris Jelzin und die USA unter George W. Bush und dann seinem Nachfolger Bill Clinton eine gemeinsame Sprache. Daher war die Ukraine gezwungen, nuklear völlig abzurüsten; damit wurde nicht nur das Kernmaterial nach Russland geliefert, sondern auch alle Raketen beseitigt und alle Silos zerstört; ein einziger dient heute noch als Museum und erinnert an eine kurzlebige Atommacht, die allerdings weder über die Codes noch das Geld verfügte, diesen Status wirklich zu bewahren.

In der Ukraine wird das zum Teil bis heute bestritten, doch unstrittig sind zwei Dinge: erstens hätten ukrainische Atomwaffen eine massive Belastung für die Beziehungen zwischen Kiew sowie Washington und Brüssel bedeutet. Das damalige Dilemma der Ukraine beschreibt sehr deutlich der ehemalige US-Botschafter in Kiew Steven Pifer in seinem 2017 erschienen Buch „Der Adler und der Dreizack“ (The Eagle and the Trident“), Darin erläutert Pifer, dass die USA auch damals zu keinen Sicherheitsgarantien bereit waren, so dass der englische Text des Vertrages nur das Wort „Versicherungen“ (assurences) enthält. In diesem Buch heißt es: „Wenn die Ukraine Atomwaffen behalten hätte, hätten weder die USA noch die EU größere Hilfsprogramme gestartet, um der Ukraine zu helfen“ sich zu reformieren und zu modernisieren.“ (74) Daher trat die Ukraine dann gezwungenermaßen dem Atomwaffensperrvertrag als nicht atomarer Staat bei.

Zweitens erhielt die Ukraine im Gegenzug das sogenannte „Budapester Memorandum“, das am 5. Dezember 1994 die Ukraine, Russland, Großbritannien und die USA unterzeichneten. Dieses Dokument enthält zweifelhafte Zusagen für die Sicherheit der Ukraine im Falle einer atomaren Bedrohung durch einen Drittstaat oder einen Unterzeichnerstaat sowie einen Konsultationsmechanismus, der bereits 2014 während der Krim-Krise nicht funktioniert hat. Seit 2014 und den ukrainischen Erfahrungen mit der Annexion der Halbinsel Krim, mit dem Krieg in der Ostukraine war das Memorandum stets ein Argument gegen eine Form der Neutralität der Ukraine, weil die anderen Unterzeichnerstaaten ihre Zusicherungen nicht eingehalten hätten, die allerdings - völkerrechtlich verbindlich – auch nicht bestanden haben.

Nach der atomaren Abrüstung der Ukraine gewann deren außenpolitische Orientierung insbesondere im Zuge der großen NATO-Osterweiterung an Bedeutung; sie fand schließlich – gegen den Willen Moskaus und wohl auch gegen mündliche Zusagen führender westlicher Politiker - im März 2004 statt. Für die Ukraine bedeutete das eine Stellung zwischen Hammer und Amboss, grenze sie doch nun sowohl etwa an den NATO-Staat Polen und das Baltikum aber auch an Russland, in dem zu dem Zeitpunkt bereits Vladimir Putin regierte. Abgesehen von seiner offensichtlichen Vorliebe für Geschichte denkt er auch geopolitisch, und zwar möglicherweise ganz im Sinne des ehemaligen Sicherheitsberaters von Präsident Jimmy Carter, des Polen Zbigniew Brzezinski; erschrieb in seinem 1997 auch in deutscher Sprache erschienen Buch „Die einzige Weltmacht“ über die Bedeutung der Ukraine: „Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.“ (S75)

Wie die jüngsten Entwicklungen zeigen, war dieses Denken offensichtlich in Moskau weit tiefer verankert als in Washington und Brüssel, denn sowohl USA und EU definierten die Ukraine nicht als geopolitischen Schlüsselstaat, sondern betrieben bestenfalls eine halbherzige außenpolitische Anbindung. So hat die Ukraine bis heute keine klare Perspektive eines EU-Beitritts, im Gegensatz zum Balkan, bei dem die Beitritte aber auch in weiter Ferne liegen. Hinzu kommt, dass die Ukraine zwar beim NATO-Gipfel in Bukarest im Jahre 2008 eine Beitrittsperspektive erhielt, die jedoch - insbesondere wegen des Widerstandes aus Deutschland und Frankreich – niemals konkretisiert wurde.

Es war somit eine recht einseitige Liebe der Ukraine; denn im Zusammenhang mit der außenpolitischen Orientierung des Landes definierte die politische Elite in Kiew die Zugehörigkeit zu den euroatlantischen Gemeinschaften (EU /NATO) schon unter dem zweiten Präsidenten Leonid Kutschma als Ziel; so heißt es in der Verfassung des Jahres 1996 im Artikel 102:

„Der Präsident der Ukraine ist der Garant für die Umsetzung des strategischen Kurses des Staates in Richtung einer Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union und der Nordatlantikpakt-Organisation.“


Das ist aber keine klare verfassungsmäßige Festlegung auf einen angestrebten NATO-Beitritt, wobei Leonid Kutschma eine „multivektorale Außenpolitik“ zwischen Washington und Moskau verfolgte. Erst unter seinen Nachfolgern gewann West versus Ost ein viel schärferes Profil, wobei auch Viktor Janukowitsch erst unter russischem Druck und in der Praxis eher mangelhaftem Interesse des Westens seine Unterschrift unter das EU-Assoziationsabkommen verweigerte, das dann die Maidan-Bewegung auslöste und zu seinem Sturz führte. Unter seinem Nachfolger Petro Poroschenko wurde dann im Jahre 2019 noch in die Verfassung der Zusatz aufgenommen, in dem von der „Unumkehrbarkeit des europäischen und euro-atlantischen Kurses der Ukraine“ die Rede ist.

Seit Beginn des großen russischen Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich dann unter dem Druck der Ereignisse die Erkenntnis auch in Kiew breitgemacht, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine keine Zustimmung im Westen findet. Daher sticht diese Karte gegenüber Moskau auch nicht besonders, dass nun bereits - trotz aller Rückschläge um Kiew – ein Fünftel des ukrainischen Territoriums besetzt hält. Hinzu kommt die für Kiew entscheidende Frage, wie denn Sicherheitsgarantien aussehen könnten, die einen neutralen Status absichern; denn negative Erfahrungen mit Beteuerungen aus West und Ost, hat die Ukraine wahrlich bereits ausreichend gemacht. Stellt sich noch die alles entscheidende Frage, wie die Ukraine und in welcher territorialen überhaupt de facto weiterbestehen kann und wird – denn so wie es derzeit aussieht, ist Moskau gekommen, um zu bleiben.

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