Lage in Charkiw und die Vizebürgermeisterin
Bei der russischen Offensive in der Ostukraine spielt auch die nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt gelegene Stadt Charkiw eine nicht unwesentliche Rolle. Denn von dieser Stadt aus versuchen die ukrainischen Streitkräfte Gegenstöße in die Flanken der russischen Angreifer. Andererseits versuchen die Russen die Ukrainer in der Stadt zu binden. Immer wieder sind im ganzen Stadtgebiet Artillerieduelle zu hören; dem Krieg zum Opfer gefallen sind in den vergangenen Wochen bereits mehr als 50 Zivilisten. Hunderttausende haben die Stadt bereits seit Kriegsbeginn verlassen; in der Stadt war bis gestern noch unser Korrespondent Christian Wehrschütz, der auch mit der Vizebürgermeisterin gesprochen hat, die für soziale Fragen zuständig ist; hier sein Bericht:
Charkiw, etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, ist eine vom Krieg gezeichnete Stadt. Die Verwaltungsgebäude sind teilweise durch russischen Beschuss massiv beschädigt; dasselbe gilt für zwei Außenbezirke, in denen die wenigen noch verbliebenen Bewohner ihren Tag weitgehend in den Kellern ihrer Wohnhäuser verbringen. Verbarrikadiert sind auch die Fenster der Wohnung von Vizebürgermeisterin Svetlana Gorbunowa-Ruban; sie treffen wir in einem Bezirk, in dem das Feuer der ukrainischen Artillerie immer wieder zu hören ist. Trotzdem macht auch dieser Bezirk wir weite Teile der Stadt insgesamt einen nach wie vor sauberen Eindruck. Wie ist das möglich, frage ich Vizebürgermeisterin Svetlana Gorbunowa-Ruban:
"Die Mitarbeiter der Stadtverwaltung arbeiten wie Soldaten. Selbst unter Beschuss bergen sie Verschüttete, Verletzt und Tote, gewährleisten die Sauberkeit der Stadt, liefern Baumaterialien aus, reparieren Dächer. Das ist somit eine recht große Armee an Menschen.“
Fest in der Hand hält Svetlana Gorbunowa-Ruban ein Notizbuch, dessen Einband das Bild „Der Kuss“ von Gustav Klimt ziert; darin hat sie alle Bitten um Hilfe aufgeschrieben, die Bürger an sie gerichtet haben. Diese Alltagssorgen im Krieg schildert Gorbunowa-Ruban so:
"In der ersten Zeit waren überhaupt alle Apotheken geschlossen, und es fehlte noch an humanitärer Hilfe. Gelitten haben insbesondere Menschen mit chronischen Krankheiten, die hormonale Medikamente brauchen oder an Krebs erkrankt sind. Auch unsere Psychiatrie hatte große Probleme mit Medikamenten. Heute haben wir das geregelt, einerseits durch humanitäre Hilfe, andererseits haben wir selbst eingekauft. Nun gibt es konkrete Anlaufstellen für diese Medikamente. Menschen melden sich auch bei mir und sagen, ich brauche etwas zu Essen und sagte dann, haben sie vielleicht einige Medikamente oder umgekehrt."
Bedrückend wirkt in Charkiw die Leere der Stadt, ein scharfer Kontrast zum pulsierenden Leben vor dem Krieg. Vizebürgermeisterin Svetlana Gorbunowa-Ruban schätzt, dass die Einwohnerzahl von 1,5 Millionen auf etwa 500.000 gesungen ist und ergänzt:
"Leider haben wir eine alternde Gesellschaft; daher hatten wir schon vor dem Krieg mehr als 30.000 alleinlebende alte Menschen. Sie haben wir gut betreut; doch mit Kriegsbeginn wurde es für diese Leute sehr schwierig. Hinzu kamen noch viele alte Menschen, die in den ersten zwei Wochen des Krieges von ihren Verwandten nicht evakuieren konnten. Technisch war das kaum möglich, außerdem wollten viele dieser Menschen nicht weg. Andererseits sind nur sehr wenige Kinder in der Stadt geblieben. Das sehen sie einerseits in den Straßen aber auch in den Geburtskliniken; täglich werden jetzt noch etwa drei bis vier Kinder geboren, und gestern gar keines. Gut ist, dass viele Schwangere die Stadt verlassen haben, und ihre Kinder dort gebären, wo sie sicher sind. Evakuiert haben wir auch alle Kinder, die in Zentren für Rehabilitation waren und auch unsere Krankenhäuser."