× Logo Mobil

Reportage aus der Ukraine und ihrer Grenze zu Russland

Zeitung
Kleine Zeitung
Berichte Ukraine

Der Grenzübergang Hoptiwka im Oblast von Charkiw ist der wichtigste Übergang zwischen der Ukraine und Russland; das war er zwar bereits vor der Coron a-Pandemie und vor den massiven politischen Spannungen, doch nun ist er es umso mehr weil statt der einst acht Übergänge im Oblast nur mehr zwei nach Russland in Betrieb sind. Bei der Fahrt zum Übergang ist auf ukrainischer Seite keine Präsenz militärischer Einheiten festzustellen. Sichtbar und spürbar ist die Krise aber am geringen Verkehrsaufkommen, denn insbesondere der Personenverkehr ist drastisch zurückgegangen. Dagegen ist die Schlange der LkWs fast 2,5 Kilometer lang; das kann aber auch mit langen Wartezeiten bei der Abfertigung zu tun haben, doch zeigen die vielen ukrainischen Kennzeichen auf den LkWs, dass ein Warenaustausch zwischen den beiden ehemaligen „Brudervölkern“ noch immer stattfindet, obwohl auch die wirtschaftliche Abnabelung voll im Gange ist.

Hoptiwka ist als Übergang aber auch deshalb interessant, weil man dort einen Teil der Befestigungen an der „Grünen Grenze“ besichtigen kann, die von Regierungschef Arsenij Jazenjuk 2015 in Auftrag gegeben wurde. Die Zäune, Sperren und Türme stehen auf einigen hundert Kilometern der Grenze mit Russland, wurden aber offensichtlich nach Jazenjuks politischem Abgang im Jahre 2016 nicht weiterverfolgt. Stillschweigend gestehen sogar die mit uns dort anwesenden Grenzpolizisten ein, dass die militärische Abhaltewirkung von „Jazenjuks Mauer“ vernachlässigbar ist, während die Korruptionsvorwürfe, die mit diesem Projekt verbunden sind, bis heute nicht wirklich geklärt wurden.

Nur etwa 40 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt liegt die Kreishauptstadt Charkiw, die erste, kurzzeitige Hauptstadt der verflossenen Sowjetunion. Nicht zuletzt die Nähe zu Russland führte dazu, dass im März des Jahres 2014 hier ernsthafte Versuche stattfanden, die Stadtverwaltung zu stürzen und Charkiw in das Projekt „Nova Rossia“ (Neurussland) einzubeziehen. Doch die lokale politische Elite entschied sich dagegen, und auch die vielen Studenten machten Front gegen Putins Projekt, das in Charkiw scheiterte und Vladimir Iljitsch Lenin, dem Gründer der Sowjetunion, schließlich Kopf und Kragen kostete, allerdings nur mehr in Form des Denkmals, das im Stadtzentrum geschleift wurde. An diesem Platz vor der Gebietsverwaltung, in dem ein Russe im Winter 2014 die russische Fahne hisste, die rasch wieder verschwand, steht nun seit Jahren ein Zelt ukrainischer Patrioten und Nationalisten mit der Aufschrift: „Alles für den Sieg“. Vor dem Zelt steht praktisch eine Ausstellung über den Krieg in der Ostukraine, wobei auf den Ständern auch eine Fotomontage klebt, die Wladimir Putin als eine Art Hitler darstellt. Bei der Besichtigung spricht mit der 53-jährige Boris an, der in Charkiw lebt und Siegeszuversicht und Widerstandswillen demonstriert:

"Wir brauchen keine Zustände wie im besetzten Donezk und Lugansk. Wir sind ein unabhängiges Land, wir sind Ukrainer, wir sind freie Menschen, so wollen wir weiterleben; und wir sind Teil Europas und nicht einer russischen Welt."

Zweifellos sind die ukrainischen Streitkräfte nun weit besser gerüstet als 2014, und acht Jahre später hat auch die Nationsbildung in der Ukraine den Willen zum Widerstand spürbar gestärkt. Hinzu kommt, dass insbesondere die USA und Großbritannien die Streitkräfte jüngst mit modernen Panzerabwehrwaffen ausgestattet haben, die vor allem im urbanen Gelände einem russischen Angreifer großen Schaden zufügen könnten. Widersprüchlich sind weiterhin Aussagen und Verhaltensweisen westlicher und ukrainischer Politiker sowie das tägliche Leben in der Ukraine. So schrieben britische Medien gestern unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in London, Russland könnte „binnen drei Wochen für eine umfassende Invasion“ bereit sein, wobei diverse westliche Politiker bereits seit Wochen mögliche Termine für eine mögliche Invasion nennen.

Das heißt nicht, dass ein Angriff nicht stattfinden kann oder wird, oder die Gefahr verniedlicht werden soll; doch stellt sich gerade angesichts der russischen Bedrohung auch die Frage nach der Seriosität westlicher Einschätzungen, inklusive der schwankenden Angaben über die Zahl der russischen Soldaten im Grenzgebiet zur Ukraine. Hinzu kommt das Verhalten der Führung in Kiew; so hat die einstige politische Ikone, Julia Timoschenko, die Vorsitzende der Vaterlandspartei, Präsident Volodimir Selenskij vor mehr als einer Woche die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit vorgeschlagen. Nach Angaben der Partei, hat Selenskij darauf bisher nicht einmal geantwortet. Aber vielleicht schätzt Selenskij die russische Bedrohung anders ein als Jo Biden und der Rest der westlichen Welt? Nach seinem morgen Treffen mit den Außenministern aus Österreich, Tschechien und der Slowakei werden wir hoffentlich mehr darüber wissen.

Facebook Facebook