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Zerfall UdSSR Matlock Interview

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Das Jahr 1991 war in Europa ein Jahr tiefgreifender geopolitischer Veränderungen, die auch 30 Jahre später noch deutliche Nachwirkungen zeigen. Grund dafür war der Zerfall zweier kommunistischer Vielvölkerstaaten. So begann im Sommer 1991 der blutige Zerfall des ehemaligen Jugoslawien; und im Dezember desselben Jahres wurde die Sowjetunion aufgelöst, die damit nach mehr als 70 Jahren ein friedliches Ende nahm. Der Wandel in der Sowjetunion ist untrennbar mit Michail Gorbatschow verbunden; der nunmehr 90igjährige wurde im März 1985 Generalsekretär der KPdSU, der kommunistischen Partei der Sowjetunion. Unter den Schlagworten Transparenz und Umgestaltung – russisch Glasnost und Perestrojka – begann er mit der Demokratisierung im inneren und außenpolitischen mit einer Phase der Kooperation mit dem Westen. Sie bescherte Europa das Ende des Kalten Krieges, Osteuropa die Freiheit und Deutschland die Wiedervereinigung. Innenpolitisch aber scheiterte Gorbatschow. Diese Schlüsseljahre hautnah miterlebt hat der letzte Botschafter der USA in der Sowjetunion, Jack F. Matlock; der nun 92jährige Matlock hat zwei umfassende Bücher über diese Jahre geschrieben; Christian Wehrschütz hat sie gelesen und mit dem Autor gesprochen; hier sein Bericht:

Vor Michail Gorbatschow gab es nur einen ersthaften Versuch, die Sowjetunion zu reformieren, und zwar durch Nikita Chrustschow; doch beim Versuch das starre sowjetische System zu reformieren, scheiterte Chrustschow und wurde 1964 von Leonid Breschnew abgesetzt; mit ihm begann die Ära der Stagnation, die auch noch seinen Tod im Jahre 1982 überdauerte; denn weitere zwei Greise folgten ihm als Generalsekretär der kommunistischen Partei nach, ehe 1985 der damals 54-jährige Gorbatschow diese Funktion übernahm. Etwa zwei Jahre später kam dann Jack F. Matlock als amerikanischer Botschafter nach Moskau; die damalige Lagebeurteilung der USA beschreibt Matlock so:

49'8 - Hoffnung und Erfolge - 2'03'8

„Wir hatten gehofft, dass Gorbatschows angekündigte Reformen funktionieren würden. Wir waren uns nicht sicher, wir wussten, dass Nikita Chruschtschow, als er eine Reihe von Reformen eingeleitet hatte, irgendwann abgesetzt wurde. Als ich ankam, dachten wir, es gäbe eine reale Möglichkeit, dass Gorbatschow anders sein würde. Wir dachten, wir sollten irgendwie testen, wie viel politische Änderung es gab. Und wir hatten eine Agenda, die keine Kapitulation von ihrer Seite erforderte, sondern Vereinbarungen im beiderseitigen Interesse. Und so begannen wir in der Außenpolitik immer mehr zu erreichen und die Probleme zu lösen, die wir hatten.“

Bei der Formulierung der amerikanischen Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion spielt Matlock seit 1983 eine wichtige Rolle. Das gilt auch für die Vorbereitung des ersten Gipfeltreffens zwischen Reagan und Gorbatschow; dazu diente auch ein Rollenspiel mit Reagan, bei dem Matlock Gorbatschow verkörperte. Dazu sagt Matlock:

14'31'9 - Reagan und die Rolle von Matlock - 18'10

„Ronald Reagan war kein Intellektueller und er wusste, dass es viele Bereiche gab, von denen er nicht wirklich viel wusste. Und er war, würde ich sagen, bereit, sich belehren zu lassen; so haben wir viel Zeit verbracht.

Als Reagan dann herausfand, dass Gorbatschow aufrichtig verhandelte, entwickelten sie innerhalb von zwei oder drei Jahren eine gute Beziehung. In Briefings pflegten die Leute von Reagan zu sagen: „Oh, er ist nur ein Schauspieler“. Aber wissen Sie, seine Erfahrung in der Schauspielerei verschaffte ihm als Präsident tatsächlich einige Vorteile. Normalerweise haben unsere Präsidenten kein großes Verständnis dafür, wie Leute in anderen Ländern denken; sie gehen davon aus, dass jeder so denkt wie die Amerikaner. Aber Reagan interessierten nicht viele Details über Atomwaffen und so, sondern was den sowjetischen Führer antreibt, woher kommt Gorbatschow, wie können wir einen Weg finden, zusammenzuarbeiten? Das versuchte ich, Reagan zu erklären, in welcher Lage Gorbatschow sich befand.“

Die politische Erblast war schwer, die Gorbatschow übernommen hatte; dazu zählten der Krieg in Afghanistan, eine ineffiziente Landwirtschaft und eine Mangelwirtschaft bei Konsumgütern sowie sehr hohe Rüstungsausgaben. Doch es blieb nicht bei diesen Problemen, denn immer kamen neue hinzu, erinnert sich Jack F. Matlock:

10'24 - Nationalismus in der UdSSR U-Boot zu Flugzeug - 12'16'9

„Es gab die Katastrophe von Tschernobyl, die, die Inkompetenz und sogar Unehrlichkeit vieler Bürokraten und insbesondere des Machtmonopols der Kommunistischen Partei zeigte. Das Problem war dieser Druck auf Gorbatschow, der aus vielen verschiedenen Richtungen kam. Im Land gab es zunehmend interne Probleme, die zum Teil auf Demokratisierungsbestrebungen zurückzuführen waren; einige von ihnen wurden durch die Verschlechterung des Systems verursacht, das eine Änderung erforderte. Aber niemand verstand, wie man diese Änderung vornehmen sollte.

Ich habe das damit verglichen, ein U-Boot zu nehmen, es in ein Flugzeug umzuwandeln, und es die ganze Zeit mit derselben Besatzung in Betrieb zu halten. Ich glaube nicht, dass irgendjemand herausgefunden hat, wie das geht, ohne dass es zu einem Kollaps kommt; und doch versuchten sie, genau das zu tun, eine vollständig staatlich kontrollierte Wirtschaft zu nehmen und sie praktisch in das Gegenteil umzuwandeln.“

Ein Problem mit besonderer Sprengkraft war der Aufstieg des nichtrussischen Nationalismus, und zwar nicht nur in der Ukraine, die allerdings eine Schlüsselrolle beim Zerfall spielte. Die USA haben die Annexion der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen nie anerkennt; abgesehen von deren Unabhängigkeit traten die USA aber für das staatliche Weiterbestehen der übrigen 12 Sowjetrepubliken ein, erläutert Matlock:

4'48'8 - Bush in Kiew und Ende Kalter Krieg 6'12'6

„Wir hofften, dass Gorbatschow in der Lage sein würde, eine freiwillige Föderation zu gründen. Präsident Bush hielt am 1. August 1991 eine Rede in Kiew, in der er der Ukraine und den anderen nichtrussischen Republiken, abgesehen von Estland, Lettland und Litauen, empfahl, einem Vertrag über die Union von Gorbatschow beizutreten. Dieser Appell stieß natürlich auf taube Ohren; das konnten wir aber nicht kontrollieren.“

Nicht kontrollieren konnten die USA auch den Machtkampf zwischen Michail Gorbatschow und dem aufstrebenden Führer der russischen Teilrepublik, Boris Jelzin, der nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 immer mächtiger wurde. Dieser auch persönliche Konflikt, der in Moskau ausgetragen wurde, war wahrscheinlich der entscheidende Sargnagel für die Sowjetunion, betont der letzte US-Botschafter in diesem Land:

30'06'5 - Gorbatschow und Jelzin - 33'02

„Ich denke, dass es sehr klar ist, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion von Boris Jelzin, dem damals gewählten Führer Russlands angeführt oder ermöglicht wurde.

Als Botschafter habe ich im Juli 1990 meinen ersten Bericht darüber geschickt, dass die Sowjetunion auseinanderbrechen könnte, und dass wir dafür Notfallpläne brauchten. Ich schickte diesen Bericht, weil ich sah, dass zu viele russische Führer und Unterstützer von Jelzin davon sprachen, die Sowjetunion zu beenden und so etwas wie die Europäische Union anstelle der Sowjetunion zu schaffen. Mir war klar, dass es sehr schwierig sein würde, eine derartige Union zu bilden, wenn es keine Unterstützung der russischen Elite für den Erhalt der Sowjetunion gäbe.“

Zeitlich zu trennen sei auch das Ende des Kalten Krieges und der Zerfall der Sowjetunion, betont Jack F. Matlock:

30'06'5 - Gorbatschow und Jelzin - 33'02

„Es gibt diesen Mythos, dass das irgendwie das Ende des Kalten Krieges war, und dass der Westen dies herbeigeführt hat. Nein, der Kalte Krieg endete mindestens zwei Jahre zuvor. Wir arbeiteten zusammen und versuchten, ihnen zu helfen, 1991 eine Union von 12 Republiken zusammenzuhalten.

Die heutige Vorstellung, was viele Russen denken, dass der Westen die Sowjetunion irgendwie zu Fall gebracht hat, ist also einfach falsch. Der gewählte Führer Russlands spielte die Schlüsselrolle beim Sturz der Sowjetunion. Und wenn die Russen das für eine Katastrophe halten, müssen sie sich nur selbst die Schuld geben.“

Am achten Dezember 1991 traf Boris Jelzin in einem Jagdhaus in Weißrussland mit den Führern der Ukraine und Weißrusslands zusammen. Dabei beschloss diese Trojka die Umwandlung der Sowjetunion in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Am 12. Dezember erklärte auch Russland seine Unabhängigkeit. Am 25. Dezember erklärte Michail Gorbatschow seinen Rücktritt; wenige Stunden später wurde die rote sowjetische Fahne über dem Kreml eingeholt. Die Sowjetunion war Geschichte, doch die Folgen ihres Zerfalls werden noch viele Jahrzehnte nachwirken.

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