Das schwierige Leben der Bewohner an der Front
Die unabhängige Ukraine wird am Dienstag 30 Jahre alt. Denn am 24. August 1991 verabschiedete das Parlament in Kiew die Loslösung von der Sowjetunion, die bei einem Referendum am 1. Dezember dann vom Volk bestätigt wurde. Die heurigen Feiern werden auch mit einer Militärparade begangen, denn wegen des Krieges in der Ostukraine, will Kiew seine Verteidigungsbereitschaft demonstrieren. Zweifellos sind die Streitkräfte nun in einem viel besseren Zustand als zu Kriegsbeginn vor sieben Jahren, doch das gilt auch für die von Russland aufgerüsteten Milizen der abtrünnigen Gebiete von Lugansk und Donezk. Aus dem Bewegungskrieg wurde ein Stellungskrieg, unter dem vor allem Bewohner frontnaher Dörfer leiden. Wie es ihnen auf der ukrainischen Seite geht, hat sich unser Korrespondent Christian Wehrschütz angesehen:
Das Dorf Mirnoe liegt 11 Kilometer von der Front entfernt im Kreis Donezk. Trinkwasser muss angeliefert werden, einen öffentlichen Transport gibt es ebenso wenig wie eine Apotheke. Wer Medikamente braucht, ist auf Bekannte mit einem Auto oder auf Hilfsorganisationen angewiesen. Eine von ihnen heißt Breginja, hat ihren Sitz in der Hafenstadt Mariupol, und ist vor allem in den Ortschaften in Frontnähe aktiv. Sie finanziert nicht nur einen Arzt, der ein bis zwei Mal im Monat nach Mirnoe kommt, sondern auch Hilfsprojekte für Frauen. Warum Frauen die zentrale Zielgruppe sind, begründet Olga, die Sprecherin von Begrinja, so:
Olga, (Frau)
"In den Orten verloren viele Frauen ihre Arbeit, weil Betriebe massenhaft dicht machten. Ihr Land können die Frauen nicht bearbeiten, weil es viele Minen gibt. Außerdem fehlen Käufer für das Gemüse. Hinzu kam die schlechte seelische Verfassung. Daraus wollten wir die Frauen befreien; daher haben wir diesen Kurs organisiert."
Dieser Kurs ist ein Strickkurs, an dem 10 Frauen aus der Ortschaft teilnehmen. …
Er findet ein Mal pro Woche statt und dauert vier Stunden. Dabei geht es durchaus recht lebhaft zu. Die Frauen stricken, Hauben, Socken, Jacken, alles unter Anleitung einer Trainerin. Das Kollektiv soll lernen, die Erzeugnisse zu verkaufen, um das geringe Einkommen aufzubessern. Eine Facebook-Seite gibt es bereit. Doch es geht um mehr als nur Geld, betont die Teilnehmerin Marina:
Marina (Frau)
„Nur daheim zu leiden und zu weinen, ist keine Lösung. Besser ist es hier zu sein, zu stricken und zu reden.“
Und Tatjana ergänzt:
Tatjana (Frau)
"Mir gefällt das Stricken, es beruhigt mich; ebenso wie beim Kochen baue ich auch beim Stricken Stress ab."
Tatjana ist ein gutes Beispiel für die schwere Last, die viele Bewohner der Ostukraine zu tragen haben. Sie ist etwa 50 Jahre alt und geht auf Krücken; sie braucht eine künstliche Hüfte, doch für die Operation fehlt das Geld. Außerdem leidet sie unter den Kriegsfolgen, die die Corona-Pandemie noch verstärkt hat. Denn die prorussischen Kräfte in Donezk haben die Übergänge zur Ukraine praktisch dicht gemacht; ein Passieren ist nur in Ausnahmefällen möglich. Am Hauptübergang von Mariupol nach Donezk herrscht gähnende Leere. Geöffnet ist er von prorussischer Seite nur am zwei Mal die Woche; am Montag passierten insgesamt 700 Personen den Übergang, vor Corona waren es mehr als 10.000 pro Tag. Diese Isolation trifft auch Tatjane im Dorf Mirnoe:
Tatjana (Frau)
"Die Tochter lebt in Donezk mit zwei Kindern, vier Jahre und neun Monate. Mein kleinerer Enkel wurde dort geboren, doch gesehen habe ich ihn nur via Telefon, damit ich ihm sagen kann, dass ich seine Oma bin."
Der einzige wirklich gangbare Weg für die Bewohner von Donezk auf die ukrainische Seite führt über den russisch-ukrainischen Übergang Melitoe, doch das bedeutet eine Strecke von mehr als 1000 Kilometern und eine Fahrtzeit von mehr als 24 Stunden wegen der langen Wartezeiten am Übergang.