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Die triste Lage an der Frontlinie der Ostukraine

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Berichte Ukraine

Sieben Jahre dauert der Krieg in der Ostukraine bereits, doch aus den Medien war er viele Monate weitgehend verschwunden. Denn seit der Friedensvereinbarung von Minsk im Februar 2015 und noch mehr seit der neuerlichen Waffenstillstandsvereinbarung im Sommer des Vorjahres sind die Opferzahlen entlang der mehr als 400 Kilometer langen Fronlinie in der Ostukraine massiv gesunken. Der Krieg ist ein Stellungskrieg mit gelegentlichen Feuergefechten an der Frontlinie. Aus diesem medialen Dämmerschlaf rissen dieses Gebiet die Tatsache, dass Russland jüngst seine Truppen an der ukrainischen Grenze und auf der annektierten Halbinsel Krim massiv verstärkt hat. Seitdem gibt es Spekulationen über eine Eskalation in der Ostukraine, die auch zu massiven westlichen Reaktionen geführt haben. Während Säbelrasseln und wechselseitige Beschuldigungen nun die Politik dominieren, bleibt die Lage der Bevölkerung an der Frontlinie weiter triste, berichtet aus der Ostukraine unser Korrespondent Christian Wehrschütz:

An der Straße von der Hafenstadt Mariupol in prorussische Separatisten-Hochburg Donezk liegt der administrative Grenzübergang Novotrojzkoe. Er war stets der wichtigste der fünf Übergänge über die 450 Kilometer lange Frontlinie. Nun ist er einer von zwei Übergängen, die noch geöffnet sind. Doch die Zöllner und Grenzpolizisten haben nur wenig zu tun. Passierten vor der Pandemie etwa 12.000 Personen täglich Novotrojzkoe, so sind es nun nur mehr bis zu 250. Donezk hat die Pandemie genutzt, um sein Gebiet weitgehend abzuschotten. Auf prorussischer Seite ist der Übergang nur zwei Mal pro Woche, am Montag und Freitag geöffnet. Die Lage beschreibt der Pressesprecher des ukrainischen Übergangs Novotrojtskoje, Artem Roschkow, so:

 

Artem Roschkow

2'07'5 - Ukraine lassen alle durch - 2'30 (30)

"Wir lassen alle Personen durch; doch jeden Tag bekommen wir eine Liste mit den Personen, denen die Einreise in die besetzten Gebiete gestattet ist. Steht der Name einer Person nicht auf der Liste, so informieren wir sie, dass ihr die Vertreter der Besatzungsmacht den Übertritt möglicherweise verweigern werden, damit diese Person umkehren und nicht über Nacht an der Grenze bleiben muss."

Gerade aus Donezk zurückgekehrt ist die Pensionistin Nadeschda; ihre Tochter, die in Donezk lebt, hat sie ein Jahr nicht treffen können. Grund des Besuches war aber ein Arzttermin in Donezk; sind dort die medizinischen Einrichtungen nach wie vor besser? Dazu sagt Nadeschda:

Nadeschda

Pensionistin am Grenzübergang Novotroj

44'7 - Medizinische Einrichtungen in Donezk besser - 58'9 (19)

"Natürlich; das war das Zentrum des Kreises. Alle Kreiskrankenhäuser sind dort. Ich leide an einer chronischen Krankheit; natürlich gibt es auch in Mariupol ärztliche Konsultationen, doch das ist nicht so umfassend, um es so zu formulieren."

Die Prozedur, die zur Genehmigung der Einreise führte, beschreibt Nadeschda so:

1'28 - Prozedur Grenzübertritt - 1'59 - Quarantäne - 2'07 (25)

"Der Arzt schickte mir eine Einladung zur Behandlung. Dann haben wir alle Dokumente per Internet nach Donezk an eine bestimmte Email-Adresse geschickt. Nach etwa 10 Tagen wurden wir verständigt, dass wir die Grenze an einem bestimmten Tag passieren dürfen. Wir waren zwei Wochen dort, weil man 14 Tage in Quarantäne muss, die täglich telefonisch kontrolliert wurde."

Der Übergang Novotrojzkoe verfügt über eine umfassende Infrastruktur, vom Corona-Schnelltest über ein Handy-Geschäft bis hin zum Bankomaten. Auch Psychologen betreuen die Reisenden. Seit Beginn der Pandemie vor einem Jahr ist auch die Psychologin Anna Paskalo jede Woche mehrmals am Übergang im Einsatz; sie arbeitet für die Hilfsorganisation Proliska. Ihre Erfahrungen, die sie bei den Gesprächen gemacht hat, sind deprimierend:

Anna Paskalo

6‘07‘5 – Folgen der Pandemie für die Seele - 7’11 (44)

"Was die Übergänge betrifft so wurde vor allem die Angst zum ständigen Begleiter der Menschen. Da ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden leiden Menschen unter Angstzuständen, Hoffnungslosigkeit, Depressionen, Panik-Attacken und Einsamkeit; hinzukommen ungelöste Fragen mit der Pandemie. Sie beeinflusst die Menschen stärker als der Krieg selbst. Davor gab es eine Art Bewegungsmöglichkeit; man konnte seine Verwandten treffen. Natürlich herrscht Angst vor dem Beschuss, doch die Einschränkungen waren nicht so groß wie während der Pandemie, die sich stärker auf die Psyche auswirkt. "

Anna Peskalo betreut regelmäßig auch etwa 100 Personen, die in Ortschaften unmittelbar an der Frontlinie leben. Jüngere Menschen leiden an Angst und Hoffnungslosigkeit, ältere vor allem an Einsamkeit, sagt Anna Peskalo:

9'07'5 - Klagemauer Aussprache - 9'31'2 (18)

"Die Menschen bitten, dass ich komme, denn allein mein Besuch macht es ihnen leichter. Es gibt Pensionisten, denen einfach die Aufmerksamkeit fehlt, weil viele Kinder fortgezogen sind. Daher ist für sie diese Aufmerksamkeit das wichtigste."

Unmittelbar an der Front liegt Tschermalik. Durch die Ortschaft mit ihren nicht asphaltierten Straßen saust täglich die Sozialarbeiterin Galina mit ihrem batteriebetriebenen Dreiradler. Galina arbeitet ebenfalls für die Organisation Proliska; sie betreut alte Menschen, die zumeist selbst nicht mehr aus ihren Häuschen gehen können:

Galina

Sozialarbeiterin in Tschermalik

1'06 - Altenbetreuung - 1'38'3 (30)

"Zu diesen 17 Personen zählen auch fünf, für die ich um sechs Uhr in der Früh aufstehen muss, um ihnen das Essen für den Tag zu kochen. Die übrigen 12 Personen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Den einen bringe ich ihre Medikamente oder Lebensmittel, weil sie selbst nicht aus dem Haus gehen können. Da gehe ich für sie Einkaufen oder bezahle die Rechnungen für Strom und andere Gebühren oder bringe ihnen ihre Renten. All das zählt zu meinen Aufgaben."

Vor dem Krieg zählte Tschermalik 1800 Einwohner, die vorwiegend in der Landwirtschaft tätig waren; nun sind es noch 1.600. Die meisten Betriebe stehen still, ein Teil der landwirtschaftlichen Fläche liegt auf der anderen Seite der Front. Der Friedhof ist vermint, bei Begräbnissen wurden Trauergemeinden auch beschossen. Doch es gibt eine Apotheke, ein kleines Geschäft, eine Schule und einen Kindergarten. Den Überlebenswillen der Ortschaft verkörpert die Gemeindevorsteherin Elena Fabija:

 

Elena Fabija

Gemeindevorsteherin von Tschermalik

0'42 - was alles repariert - 2'16 (37)

"Wir haben das Dach des Kindergartens, seine Wasserversorgung und die Kanalisation repariert. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat uns bei der Erneuerung der Fenster unterstützt; Möbel und Geschirr wurden gekauft. Auch im Kulturzentrum konnten wir das Dach und einen Saal für Versammlungen ebenso wieder herrichten wie die Heizung. Zu uns kommen viele Organisationen, die Kurse und Vorträge zu medizinischen Themen halten."

Doch vor dem Krieg zählte der Kindergarten etwa 70 Kinder, nun sind es nur mehr 30. Trotz allen Überlebenswillens ist der kriegsbedingte Niedergang einfach deutlich sichtbar. Beispiele dafür schildert, Vladimir Vedenin, der in der Bezirkshauptstadt Volnovacha das Büro der Organisation Proliska leitet:

Vladimir Vedenin

16'35 - Müllentsorgung - 17'33'5 (30)

"Die Menschen verbrennen entweder den Müll oder es bilden sich wilde Deponien. In beiden Fällen belastet das die Umwelt. Außerdem ziehen diese Müllhalden wilde Tiere aber auch ausgesetzte Hunde und Katzen an. Ihre Zahl steigt; diese Hunde fallen Menschen an, die sehr oft darüber klagen. Füchse, Wildschweine und Wölfe kommen in die Ortschaften und reißen Haustiere; auch das beunruhigt die Bewohner."

Hinzu kommt, dass Friede nicht in Sicht ist, betont Vladimir Vedenin:

4'09 - Trügerische Ruhe und Stress - 5'14'3 (26)

"Die Ruhe ist trügerisch; somit leben die Menschen im Dauerstress, selbst wenn nicht geschossen wird, weil kein Ende in Sicht ist. Daher entspannen sich die Menschen nicht. Wir stellen fest, dass nun auch bereits Kinder Zuckerkrankheit bekommen, dass Krebserkrankungen zunehmen. All das ruft der Stress hervor, und daher bleiben an der Frontlinie vor allem nur die Alten zurück."

Dieser Befund gilt auch für die andere Seite der Front. Dörfer und Landstriche veröden, während ein sinnloser Krieg nach wie vor Opfer fordert und das Leiden vieler Bewohner in der Ostukraine kein Ende hat.

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