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Volodimir Selenskij – vom Systemkritiker zum Systemträger

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Kleine Zeitung
Berichte Ukraine

Als Volodimir Selenskij am 20. Mai 2019 als Präsident der Ukraine vereidigt wurde war Medienstar und Hoffnungsträger zugleich. Den zweiten Wahlgang hatte er gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko mit fast 75 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen. Seinen fulminanten Sieg krönte er mit der absoluten Mehrheit, die seine Partei „Diener des Volkes“ wenig später bei der Parlamentswahl errang.

Ein Jahr später hat Selenskij zwei Regierungen sowie mehrere Finanz- und Gesundheitsminister verschlissen. Reformer wurden etwa in der Generalstaatsanwaltschaft durch alte Kader ersetzt. Auch der eigenständige Präsident der Nationalbank musste politischem Druck weichen. Jüngst erkannte der Verfassungsgerichtshof, dass die Bestellung des Leiters der einzigen, mehr oder weniger unabhängigen Antikorruptionsbehörde, NABU, im Jahre 2016 verfassungswidrig war. Angesichts der politischen Abhängigkeit der Justiz, lässt das nur den Schluss zu, dass in der Ukraine die Entwicklung nicht vorwärts, sondern rückwärts läuft; erhärtet wird dieser Befund durch die Tatsache, dass auch hochrangige Richter weiter im Amt sind, obwohl sie ihren Reichtum nicht erklären und abgehörte Telefonprotokolle klare Hinweise auf Korruption liefern. Nennenswerte Reformen kamen nur unter massivem westlichem Druck und auch da nur nach langem Tauziehen oder in verwässerter Form zustande. Dazu zählen die Landreform sowie das Bankengesetz, das verhindern soll, dass der Oligarch Igor Kolomojskij die „Privatbank zurückerhält, die der Staat mit mehreren Milliarden Dollar vor dem Zusammenbruch retten musste. Im Parlament selbst schwindet der Zusammenhalt der Präsidentenpartei, die nun de facto aus fünf Fraktionen besteht. Bleibt als wirklich positiver Faktor vor allem die Verbesserung der Infrastruktur von der Straße bis zur Digitalisierung.

Eine vom Finnischen Institut für Internationale Beziehungen in Helsinki verfasste Studie zum ersten Amtsjahr von Selenskij trägt den bezeichnenden Untertitel „Ein Fall von Deja vu“. Studienautor Ryhor Nizhnikau zieht folgenden Schluss: "Das Hauptergebnis seines ersten Jahres ist, das er Teil des Systems wurde, das er kritisiert und versprochen hat zu beseitigen. Er nutzt nicht nur dieselben korrupten Amtsträger seiner Vorgänger, sondern er nutzt auch dieselben Praktiken des politischen Systems wie Freunderlwirtschaft und Korruption." Diesen Befund ergänzt in Kiew der Politologe Vasil Filiptschuk so: "Selenskij wurde gewählt als Mann gegen das System. Er hatte zu Beginn zwei, drei Monate, um das System zu brechen; doch wie sagt die Regel: "Wenn Du das System nicht brichst, wirst Du sein Teil, und das geschah. Das eherne Gesetz der Oligarchie siegte wieder; doch Selenskij ist anders als die durchschnittlichen ukrainischen Politiker. Ich glaube nach wie vor, dass er persönlich nicht korrupt ist; er ruft keine Geschäftsleute an und fordert Geld dafür, ihre Probleme zu lösen. Doch dieser Unterschied hat das System nicht gebrochen. Er und das System, beide haben sich miteinander arrangiert."

Für Filiptschuk ist Selenskij trotz aller Kritik noch um Längen besser als sein Amtsvorgänger Petro Poroschenko, der völlig auf die nationalistische Karte setzte; auch daher gab es keine Fortschritte beim Friedensprozess in der Ostukraine. Selenskij setzte dagegen auf die Politik der kleinen Schritte und stellte die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung auf beiden Seiten der Frontlinie in den Vordergrund. Das Passieren dieser Linie wurde erleichtert, neue Übergänge werden gebaut, die Feuerpause hält nun bereits mehr als einen Monat. Doch auch bei der Suche nach Frieden fehlt dem ukrainischen Präsidenten eine klare, konsistente Strategie, ein Befund der für seine Politik insgesamt gilt. Hinzu kommt die Corona-Pandemie; die Checkpoints an der Frontlinie waren wochenlang geschlossen und sind auch jetzt nur schwer passierbar, wobei für diese Lage die prorussischen Separatisten mitverantwortlich sind. Auf ukrainisch-kontrolliertem Gebiet hat Kiew die Pandemie nicht im Griff, die Wirtschaft brach im ersten Halbjahr um mehr als sechs Prozent ein. Ausländische Direktinvestitionen sind weiter gering, die Krise dürfte die Abhängigkeit des Präsidenten von den Oligarchen verstärken, die auch die wichtigsten Medien kontrollieren.

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