ORFIII BRENNPUNKT Die Ukraine: Sechs Jahre nach der Revolution: Vom Kampf auf dem Majdan zum Kampf um den Maidan“.
ORFIII BRENNPUNKT
Die Ukraine:
Sechs Jahre nach der Revolution: Vom Kampf auf dem Majdan zum Kampf um den Maidan“.
Ende Februar von sechs endete in Kiew die Revolution am Platz der Unabhängigkeit mit dem Sturz des als prorussisch geltenden ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Der Sieg der Revolutionäre war teuer erkauft; mehr als 80 Demonstranten starben allein in den drei blutigsten Tagen vom 18. bis zum 20. Februar 2014. Getötet wurden insgesamt auch 23 Polizisten. Hinzu kommen auf beiden Seiten viele Verletzte, deren Gesamtzahl unbekannt ist. Die Majdan-Revolution war eine tiefe Zäsur in der Geschichte der Ukraine, in ihrem Schwanken zwischen Westorientierung und Russland. Die Abkehr von Russland dauert an, doch viele Forderungen der mehrheitlich friedlichen Demonstranten sind bis heute nicht erfüllt. Dazu zählt, dass auch sechs Jahre später sind bisher nur kleine Fische für die Verbrechen am Majdan verurteilt worden; umstritten ist nach wie vor, wer die Schützen und Scharfschützen waren, die vor allem in der Früh des 20. Februar das Feuer eröffneten. Hinzu kommt seit einigen Monaten eine massive Debatte über die Liste der sogenannten „Himmlischen Hundert“, die als Opfer auf dem Majdan geführt werden und auch den Titel „Held der Ukraine“ erhielten. Denn tatsächlich bestehen berechtigte Zweifel, dass nicht alle angeführten Personen auf dieser Liste, um Kampf gegen die Polizei und das System Janukowitsch ihr Leben ließen. Die Bewertung des Majdan ist in der Ukraine nicht einheitlich; für seine Anhänger ist das die „Revolution der Würde“, für die Gegner ein Staatsstreich. Der Kampf um die Deutung des Majdan dauert in der Ukraine somit an, wie dieser Film von ORF-Ukraine- Korrespondent Christian Wehrschütz zeigt.
Bericht: Christian Wehrschütz
Kamera: Sascha Aleksejew
Schnitt: Mica Vasilijevic
Insert1: Juri Aksenin, ehemaliger Demonstrant am Majdan
Insert2: Juri Aksenin, ehemaliger Demonstrant am Majdan
Insert3: Juri Aksenin, ehemaliger Demonstrant am Majdan
Insert4: Olga Bogomolez, Ärztin am Majdan
Insert5: Olga Bogomolez, Ärztin am Majdan
Insert6: Olga Bogomolez, Ärztin am Majdan
Insert7: Michail Dobrovolskij, ehemaliger Major der Sondereinheit Berkut
Insert8: Michail Dobrovolskij, ehemaliger Major der Sondereinheit Berkut
Insert9: Andrij Mirutenko, ehemaliger Major der Sondereinheit Berkut
Insert10: Andrij Mirutenko, ehemaliger Major der Sondereinheit Berkut
Insert11: Andrij Mirutenko, ehemaliger Major der Sondereinheit Berkut
Insert12: Olga Bogomolez, Ärztin am Majdan
Insert13: Vitalij Tititsch, Rechtsanwalt von Opfern auf dem Majdan
Insert14: Oleksandr Goroschinskij, Rechtsanwalt von Sonderpolizisten
Insert15: Serhij Gorbatjuk, ehemaliger Leiter der Majdan-Sonderbehörde
Insert16: Serhij Gorbatjuk, ehemaliger Leiter der Majdan-Sonderbehörde
Insert17: Serhij Gorbatjuk, ehemaliger Leiter der Majdan-Sonderbehörde
Insert18: Serhij Gorbatjuk, ehemaliger Leiter der Majdan-Sonderbehörde
Insert19: Oleksandr Goroschinskij, Rechtsanwalt von Sonderpolizisten
Insert20: Elena Lukasch, ehemalige Justizministerin der Ukraine
Insert21: Elena Lukasch, ehemalige Justizministerin der Ukraine
Insert22: Andrij Bitschenko, Meinungsforscher, Razumkow-Zentrum, Kiew
Insert23: Vassil Filiptschuk, Polotologe in Kiew
Insert24: Serhij Gorbatjuk, ehemaliger Leiter der Majdan-Sonderbehörde
Insert25: Volodimir Selenskij, Präsident der Ukraine in einem Wahlkampfspot
Gesamtlänge: 45, 17
Der Majdan nezalesnosti – der Platz der Unabhängigkeit ist das Herzstück der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Viele wichtige Ereignisse spielten sich an diesem Ort ab. Hier begann 2017 die Fan-Zone für den Eurovisionssongcontest, der die Ukraine auf friedliche Weise ins internationale Rampenlicht rückte. Doch von November 2004 bis Jänner 2005 war der Majdan auch Schauplatz der ersten, friedlichen, sogenannten Orangenen Revolution;
Zehntausende Ukrainer demonstrierten damals gegen die Fälschung der Präsidentenwahl, die Viktor Janukowitsch bereits damals an die Macht hätte bringen sollen. Dieser Versuch scheiterte am Widerstand der Bevölkerung. Schließlich gewann der prowestliche Viktor Juschtschenko die Präsidentenwahl; Ministerpräsidentin wurde Juli Timoschenko. Doch dem Sieg folgte der Machtkampf zwischen den beiden Führern der „Orangenen Revolution“; ihm fielen auch alle Hoffnungen der Demonstranten zum Opfer. Wiederum hatte die Ukraine eine Chance auf Reformen und Modernisierung nicht genützt.
Im Jahre 2010 bei international anerkannten Wahlen zum Präsidenten gewählt, war Janukowitsch auch Auslöser der zweiten Majdan-Revolution. Denn beim EU-Gipfel am 28. und 29. November 2013 in Vilnius weigerte er sich unter russischem Druck das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen.
Gegen diese Abkehr von der EU demonstrierten am Majdan am 30. November Studenten auf friedliche Weise. In der Nacht vertrieb die Polizei-Sondereinheit Berkut die verbliebenen Demonstranten vom Platz. Die übermäßige Gewaltanwendung durch die Polizei erzürnte die Bevölkerung, die zweite Majdan-Bewegung begann.
Die ganz große Mehrheit der Majdan-Bewegung bildeten friedliche Ukrainer aus allen Teilen des Landes. Sie standen auch bei eisigen Temperaturen für ein Land ohne Korruption und demonstrierten gegen einen Präsidenten, dem sie Machtanmaßung und eine prorussische Politik vorwarfen. Der Rücktritt von Viktor Janukowitsch zählte zu den erklärten Zielen der Bewegung. Die EU spielte als Thema kaum noch eine Rolle.
Ende Jänner waren zwar bereits die ersten Todesopfer zu beklagen; doch generell blieb der friedliche Charakter der Demonstration gewahrt.
Am Majdan war Tag und Nacht etwas los; es wurde diskutiert, gekocht und gelebt, ein buntes Bild, das die enormen sozialen und politischen Spannungen in den Hintergrund drängte, die sich Ende Februar und in den folgenden Monaten in der Ukraine blutig entladen sollten.
Den blutigen Höhepunkt der Revolution bildeten die Tage vom 18. bis zum 20. Februar. Es gab nicht nur massive Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei, sondern es wurde auch scharf geschossen – auf beiden Seiten. Etwa 80 Demonstranten starben, Tausende wurden verletzt. Die Eskalation erfolgte in zwei Wellen; auf den blutigen 18. Februar folgte ein ruhigerer Tag, ehe die Gewalt am 20. Februar ihren traurigen Höhepunkt erreichte. An diesem Tag starben etwa 50 Demonstranten – ein hoher Blutzoll für den Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch, der am Abend des 21. Februar aus Kiew floh.
Ein Teil des Platzes der Unabhängigkeit dient als Gedenkstätte für die Opfer unter den Demonstranten. Bei dem Anstieg in die Institutska-Straße, die damals sehr umkämpft war, stehen Bilder von Gefallenen. Die eigentliche Gedenkstätte mit der Kapelle liegt etwas oberhalb des Hotels Ukraine, in etwa dort, wo während der Kämpfe eine Barrikade war. Am Jahrestag des Majdan legen hier viele Ukrainer Blumen nieder. Der heute 29-jährige Juri Aksenin leitet den Verein „Verwandte der Himmlischen Hundert“; unter diesem Namen werden die Majdan-Gefallenen von den Anhängern der Bewegung verehrt. Juri zählt ebenfalls zu den Demonstranten; in den Februar-Tagen kam er mit heiler Haut davon; das gilt allerdings nicht für seinen damals 52-jährigen Vater Vasil Aksenin; er bezahlte seinen Einsatz schließlich mit seinem Leben:
Aksenin: 5’25
"Am 20. Februar in der Früh wurde er verwundet. Es gibt ein Video, wie die Männer Molotow-Cocktails werfen und versuchen, den Kordon der Sonderpolizei zu durchbrechen. Die Kugel trat beim Steißbein ein, wo es viele Venen gibt. Ich war damals in den Händen der Polizei, freigelassen wurde ich erst, nachdem mein Vater verletzt worden war. Unsere Ärzte warnten mich vor dem schlimmsten. Wir haben ihn nach Polen ins Krankenhaus gebracht, doch auch dort, konnte man meinen Vater nicht retten."
Juri zeigt uns die Stelle, an der sein Vater angeschossen wurde, von wem ist unklar; er glaubt, dass der Schütze ein Sonderpolizist war, Gewissheit hat er aber nicht.
Der Schuss könnte aber auch aus dem Hotel Ukraina abgegeben worden sein, dass damals in den Händen der Revolutionäre war. Doch was veranlasste seinen Vater aus Tschernowitz in der Westukraine nach Kiew zu kommen, und an der Majdan-Bewegung teilzunehmen?
Aksenin: 6’42
"Die Herrschaft des Rechts war das Leitmotiv, für das mein Vater und die Menschen am Majdan gekämpft haben. Begonnen hat zwar alles mit dem Euro-Majdan der Studenten, die die EU wollten; dabei darf man nicht vergessen, dass der Unterschied zwischen West- und Ostukraine ist enorm. Doch der zwischen Russland und Europa ist unwahrscheinlich groß. Daher war der Wunsch der Studenten verständlich. Doch nach der brutalen Niederschlagung der Studentendemonstration durch die Polizei begann die Revolution der Würde. Der große Fehler der Menschen war, daran zu glauben, dass es reicht, Präsident Viktor Janukowitsch los zu werden, und alles wird gut."
Das war ein Irrtum, wie nicht nur Juri nunmehr sehr gut weiß. Geändert haben sich auch seine Gefühle, die zunächst durch den Verlust des Vaters geprägt waren:
Aksenin: 7’43
"2014 meldete ich mich freiwillig und zog in den Krieg. Ich wollte Rache; doch jetzt nach der Rückkehr und nachdem ich ruhiger wurde, hat sich das geändert. Jetzt will ich keine Rache, sondern in erster Linie Gerechtigkeit. Wenn es Urteile geben wird, dann kann sich das nicht mehr wiederholen."
Außerordentlich waren am Majdan Leistung und Einsatz der Sanitäter und Ärzte. Rettungen konnten vielfach nicht zufahren oder wurden nicht durchgelassen. Je brutaler die Kämpfe wurden, desto höher wurde auch die Zahl der Verletzten, die versorgt werden mussten. Ein Zentrum der Erstversorgung am 20. Februar war die Lobby des Hotels Ukraina, in dem leider nicht gedreht werden durfte. Vor sechs Jahren diente diese Lobby als Lazarett – eingerichtet von der Ärztin Olga Bogomolez; während der blutigsten Tage des Majdan war sie rund um die Uhr im Einsatz:
Olga Bogomolez: 9’01
"Der 20. Februar war bereits der dritte Tag ohne Schlaf. Am 18. Februar arbeitete ich im Behelfslazarett im Haus der Offiziere. Da hatten wir 1.500 Verletzte an diesem einen Tag als es diesen friedlichen Protestmarsch gab, doch wir hatten viel weniger Tote. Wir waren rund um die Uhr im Einsatz. Am 20.Februar wurde ich gegen acht Uhr früh angerufen, dass es Verletzte auch in der Insitutska-Straße gibt. Ich nahm meine bereits gepackten Taschen, und wir machten uns auf den Weg. Am Majdan standen die Burschen mit Schilden aus Holz; sie bedeckten uns, und brachten mich ins Hotel Ukraina. Bis 1000 hatten wir bereits die ersten drei Ermordeten. Ich forderte Hilfe an. Schließlich hatten wir hier zehn Sanitäter, Krankenschwestern und Anästhesisten."
Schließlich lagen 13 Tote in der Lobby des Hotels. Die Opfer wurden alle erschossen, und zwar gezielt und professionell. Ihr Abtransport konnte erst am Abend des 20. Februar stattfinden:
Olga Bogomolez: 10’23
" Die Schusswunden wurden derart professionell zugefügt, dass wir machtlos waren. Wenn ein Schuss ins Herz trifft, was sollst Du dann tun? Klar ist, dass das nicht nur das Ziel war, die Leute aufzuhalten, sondern sie zu ängstigen. Das war eine zynische Jagd. Ich habe eine große Erfahrung als Ärztin, doch so viel Blut hatte ich zuvor noch nie gesehen. Die 13 Ermordeten, die am Boden lagen, schwammen im Blut. Wir waren hier bis zum Abend; die Rettung konnte nicht kommen, und erst um 20 Uhr konnten wir die Leichen über den Majdan heraustragen und dann ins Leichenschauhaus bringen."
Doch wer trägt für all das die Verantwortung? Wer gab den Schießbefehl?
Olga Bogomolez: 11’12
"Das interessiert mich schon sechs Jahre! Doch niemand wurde benannt, der den Schießbefehlt gegeben hat. Die Sicherheitskräfte schießen nicht selbständig, sie sind ausgebildet, Befehle zu befolgen. Es gibt kein Mitglied der Sondereinheit Berkut, der einfach so zu schießen beginnt; er befolgt Befehle. Doch wer gab ihn?
„Der Tapferkeit, der Treue, dem Heldentum der Mitarbeiter des Innenministeriums der Ukraine“ – steht auf diesem Denkmal für die im Dienst getöteten Polizisten.
Hier gedenken jedes Jahr am 20. Februar ehemalige Mitglieder der Sondereinheit Berkut der am Majdan getöteten Kameraden – allerdings ohne Medien und praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Niederlage ist bekanntlich ein Waisenkind und die Sieger schreiben die Geschichte. Berkut wurden zum Sündenbock für alle Verbrechen, die die Polizei am Majdan begangen hat oder begangen haben soll, obwohl auch andere Sondereinheiten im Einsatz waren und viele zentrale Fragen offen sind.
Fest steht, dass der Blutzoll der Demonstranten weit höher war als der der Sicherheitskräfte. Doch auch ihre Opfer sind nicht unerheblich. …
Mehr als 20 Polizisten sollen während der gesamten Dauer der Majdan-Bewegung getötet worden sein; allein in den drei Tagen Ende Februar waren es 13. Durch Schusswaffen verletzt wurden mehr als 200; die Angaben über die Gesamtzahl der Verletzten schwanken zwischen 1000 und 1700. Die Sondereinheit Berukt hatte grundsätzlich keine Schusswaffen; nur eine ihrer Spezialeinheiten, die sogenannte „Schwarze Einheit“ verfügte über Kalaschnikows.
Am Majdan im Einsatz war auch Michail Dobrovolskij, damals Major der Polizei-Sondereinheit Berkut. Bekannt wurde der Polizist nicht zuletzt deshalb, weil er in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar in die Gefangenschaft der Demonstranten geriet:
Michail Dobrovolskij: 13’46
„Alles brannte, und auf dem Majdan stand das Wasser, weil die Feuerwehr die Brände zu löschen versuchte. Wir bekamen den Befehl, den Majdan zu nehmen. Dort an der Kreuzung, wo der weiße Audi steht, war ich, als die Granate explodierte; Feuer, Schüsse, ich fiel und wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, spürte ich weder Hände noch Füße. Als ich schließlich aufstehen konnte, dachte ich, meine Kammeraden seien vorne, und ich folgte ihnen. Doch jemand hatte den Rückzug befohlen, obwohl wir praktisch vor der Bühne auf dem Majdan waren. Für uns endete das mit der Gefangennahme. Die Menge hasste uns und wollte uns bestrafen; wir hacken Dir Arme und Beine ab, riefen einige."
Gerettet hat den Major ein Freund, der einer der Führer der Majdan-Bewegung war. Der Mann brachte, Dobrovolskij zu einem Rettungsauto. Doch damit war die Gefahr für Leib und Leben noch nicht gebannt.
Michail Dobrovolskij: 14’52
"Wir lagen im Krankenhaus nur zwei Tage, weil mit Kalaschnikows bewaffnete Männer kamen und dem Personal drohten, alle zu erschießen, sollten wir das Krankhaus nicht verlassen. Freunde kamen mit Autos und riskierten ihr Leben, und brachten uns in ein anderes Spital."
Wegen der Spätfolgen der Verletzung ging Dobrovolskij in Pension; seine Rente beträgt umgerechnet 270 Euro. Gegen den nunmehr 49-jährigen sind seit sechs Jahren zwei Strafverfahren anhängig; die Anklage lautet auf übermäßige Gewaltanwendung gegen Demonstranten am Majdan sowie bei der Räumung eines Gerichtssaals; daraus wollten Demonstranten ihre Kameraden befreien und leisteten Widerstand gegen die Staatsgewalt. Keines der Verfahren ist abgeschlossen.
Im ORF-Büro in Kiew habe ich Videos vom Majdan vorbereitet, die ich mit Michail Dobrovolskij besprechen will. Mit dabei ist auch Andrij Mirutenko; der ehemalige Berkut-Major war als Aufklärung und Analytiker während der Revolution im Einsatz. Das erste Video zeigt klar, dass Sonderpolizisten scharf auf Demonstranten schießen; welcher Einheit sie angehörten können auch die beiden Männer nicht eindeutig beantworten, doch …
Andrij Mirutenko: 16’23
"Unter den Bedingungen einer sehr radikalen Vorgangsweise durch die Demonstranten, und da es auch schon Tote durch Schusswaffen und Verletzte gab, war klar, dass das Leben der Polizisten bedroht war. Da hatten die Sicherheitskräfte nach dem damals geltenden Gesetz über die Polizei zu diesem Zeitpunkt das Recht von der Schusswaffe Gebrauch zu machen."
Wobei natürlich noch immer ein großer Unterschied besteht, ob ich einen Demonstranten erschieße oder nur kampfunfähig mache.
Im Internet findet sich auch dieses Video, das beweisen soll, dass Sonderpolizisten wehrlose Demonstranten erschossen. Das Video ist geschnitten, lässt sich von Kiew aus nicht überprüfen, wirkt aber authentisch. Andrij Mirutenko kann nicht ausschließen, dass Polizisten gezielt Demonstranten erschossen, macht aber folgenden Einwand geltend:
Andrij Mirutenko: 17’24
"Das Scharfschützengewehr "Dragunowa" schießt mit denselben Patronen Kaliber 7,62 wie die Kalschnikows der Einheit Berkut; diese Scharfschützengewehr schießt genau auf 1200 Meter. Unser Schütze, den wir im Bild sehen, befindet sich in einer Entfernung von 100 bis 150 Metern. 750 Meter dahinter hätte sich in jedem Gebäude ein Schütze befinden können, der seine Schussbahn hätte ausnutzen und hinter ihm das Feuer eröffnen können. In diesem Fall braucht es eine genaue ballistische Analyse; sie gab es auch sofort danach als es noch viele heiße Spuren gab; dabei wurde festgestellt, dass diese Patronen nicht aus unseren Waffen abgefeuert wurden."
Diese Darstellung lässt sich durch mich mangels Zugang zu den Dokumenten nicht überprüfen. Mirutenko führt aber noch ein weiteres Argument ins Treffen:
Andrij Mirutenko: 18’24
"Es gab keine Notwendigkeit, diesen Mann auszuschalten, weil von ihm keine Gefährdung ausging. Daher hätte man ihn nicht ausschalten müssen. Doch für einen möglichen Scharfschützen, der als Provokateur hinter der Polizei eingesetzt war, war das ein ideales Ziel. weil er unschuldig und unbewaffnet war und es auch die Medien sahen; das dürfte einem möglichen Scharfschützen auch nicht entgangen sein.“
Die Frage nach den Scharfschützen ist die zentrale Frage des 20. Februar 2014. Klar ist, dass das Feuer an diesem Tag zuerst auf die Polizisten eröffnet wurde, die sich zunächst zurückzogen, wie ich es auf dem Weg zum Hotel Ukraina selbst erlebt habe.
Klar ist auch, dass auf beiden Seiten scharf geschossen wurde, und zwar mit verschiedenen Waffen, von der Kalaschnikow bis zum Jagdgewehr.
Vor allem auf Seiten der Polizei, sieht man auch Scharfschützen im Anschlag, doch die Scharfschützen sieht man praktisch nicht, die offensichtlich auf Demonstranten wie Polizisten feuerten.
Dazu zählen diese Bilder, die zeigen, wie ein Projektil einen Baum trifft.
Der Treffer deutet klar darauf hin, dass aus dem Hotel Ukraine gefeuert wurde, das damals in den Händen der Führung der Demonstranten war. Hinzu kommen viele Beiträge bekannter Fernsehsender sowie unverdächtige Zeugen, die damals etwa als Ärzte die Opfer behandelten:
Olga Bogomolez: 20’27
"Als wir begangen, dieses behelfsmäßige Lazarett in der Lobby einzurichten, wussten wir nicht, woher geschossen wurde. Doch dann kam ein Mann des Sicherheitsteams, ein Veteran des Krieges in Afghanistan, und sagte, aus einem der Fenster über uns feuert ein Scharfschütze auf die Institutska-Straße, dort wo die Barrikaden waren. Dort wurden sie erschossen, und zwar sehr professionell. Die Aufgabe war, Chaos und Panik zu verursachen."
Von deren Schüssen gibt es viele Spuren in Bäumen und anderen Gegenständen. Doch wer waren die Scharfschützen, woher kamen sie und wer erteilte den Schießbefehl?
Dazu gibt es in der Ukraine völlig entgegengesetzte Ansichten
Vitalij Tititsch: 21’26
„Die Staatsanwaltschaft hat im Sommer wichtige Beweise für diesen Fall vorgelegt hat. Da wurden echte Scharfschützen einvernommen, Einheiten zur Terrorismusbekämpfung: Alpha, Omega, sowie Mitarbeiter des Geheimdienstes, die damals dort anwesend waren. Dieser Terrorakt, einschließlich der vorangegangenen Provokation, war einen Angriff vom Konservatorium aus auf Polizisten; die Umstände des Terrorakts sind vollständig aufgedeckt. Das, was am 20. Februar geschah, wurde auf höchster Ebene organisiert und koordiniert, das heißt vom Präsidenten der Ukraine oder von einem von ihm eingerichteten speziellen Hauptquartier.“
Ganz anderer Meinung ist ein Rechtsvertreter angeklagter Sonderpolizisten:
Oleksandr Goroschinskij: 22’18
"Auf mein Ersuchen an die Generalstaatsanwaltschaft wurde ein internationales Ansuchen gestellt, und in der weißrussischen Generalstaatsanwaltschaft in Minsk wurden drei Zeugen einvernommen; das sind Georgier, die am 20. Februar 2014 unmittelbar am Majdan beteiligt waren; sie haben unmittelbar gesehen, wie Feuer auf die Polizisten aber auch auf die Demonstranten eröffnet wurde. Die Organisatoren dieser Massenmorde waren in beiden Fällen zwei Führer des Maidan und der ehemalige georgische Präsident Miheil Sakashwillij. Diese Aussagen wurden bereits der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine übermittelt."
Das Video zeigt den Rechtsanwalt und drei Georgier nach ihrer Einvernahme in Minsk. Sie und andere Georgier, die am Majdan im Einsatz gewesen sein sollen, wurden auch in einigen Filmen präsentiert. Die Aussagen der drei Männer sind eindeutig; demnach wurden sie vom früheren georgischen Präsidenten Micheil Sakaschwili und vom ultranationalistischen ukrainischen Politiker Andrij Parubi gemeinsam mit anderen Scharfschützen engagiert, um eine friedliche Lösung des Majdan-Konflikts durch ein Blutbad unmöglich zu machen. Im Hotel Ukraina sollen einige von ihnen im Korridor im dritten Stock als Wächter eingesetzt worden sein, damit die eigentlichen Scharfschützen nicht gestört werden.
Stutzig wird man im Fall von Nergadze Koba; er trat im Film eines italienischen Journalisten auf. Sein dabei gezeigter Ausweis in englischer Sprache weist einen groben Fehler auf; so ist das Wort „Certificate“ mit einem K geschrieben, ein Rechtsschreibfehler, der auf eine schlechte Fälschung hindeutet. Das ist nur eine der Ungereimtheiten,; die Georgier sind somit mit Vorsicht zu genießen; anderseits ist es jedenfalls merkwürdig, dass ukrainische Gerichte und die Sonderbehörde zum Majdan die Georgier als potentielle Zeugen bisher nicht befragt haben.
Micheil Sakaschwili, der in der Ukraine nach dem Majdan einige Zeit eine unrühmliche politische Rolle spielte, spricht von russischer Propaganda. Auch Andrij Parubi wies diese Darstellung zurück; beim Prozess in Kiew gegen den im russischen Exil lebenden Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch, sagte Parubi als Zeuge aus; ob er je zu den Vorwürfen der Georgier einvernommen wurde, ist nicht bekannt. Der Ultranationalist machte nach seiner führenden Rolle am Majdan politische Karriere und war von April 2016 bis August 2019 Parlamentspräsident.
Klar ist, dass die Frage nach den Scharfschützen auch eine Frage nach der Bewertung des Majdan insgesamt ist. Alles andere als befriedigend sind die Ergebnisse der Sonderbehörde zu diesem Thema:
Serhij Gorbatjuk : 25’26
"Eindeutige Schlüsse kann man dann ziehen, wenn in den Körpern entsprechende Kugeln gefunden wurden, die man mit verschiedenen Waffen vergleichen kann; als Folge dieser Untersuchung kann man dann eindeutig sagen, das war die Waffe eines Scharfschützen. Doch Überreste von Kugeln fanden sich nicht überall; es gibt eine große Anzahl an Wunden mit einem Durchschuss, sowohl bei den Getöteten als auch bei den Verletzten. Eindeutig konnten wir durch die Untersuchung der Kugeln nur zwei Fälle bestimmen; doch auch bei einem Teil jener, die einen Durchschuss erlitten, sind Fälle nicht ausgeschlossen, dass Waffen von Scharfschützen zum Einsatz kamen."
Und wer hat dann die fast 50 Demonstranten auf dem Majdan getötet?
Serhij Gorbatjuk : 26’14
"Bei mehr als 20 Personen ist erwiesen, dass sie durch Kalaschnikows getötet wurden; doch mehr als weitere 20 Getötete erlitten einen Durchschuss; dementsprechend kann es einige Fälle darunter geben, die durch Scharfschützen getötet wurden. Gleichzeitig zeigten Untersuchungen bei jenen Fällen, die einen Durchschuss erlitten, dass die Schüsse von den Orten abgegeben wurden, wo sich Sicherheitskräfte mit Kalaschnikows befanden. Daher werden Angehörige der Spezialeinheit der Kiewer Berkut, die sogenannte "Schwarze Einheit", die mit Kalaschnikows bewaffnet war, auch für den Tod von 48 Demonstranten verantwortlich gemacht."
Sechs Jahre sind seit der Majdan-Revolution vergangen. Eigentlich hätten ukrainische Gerichte schon längst ihr abschließendes Urteil sprechen müssen; doch eine umfassende juristische Aufklärung lässt weiter auf sich warten. Denn die Ermittlungen gleichen einem Trichter, der nach unten immer enger wird.
4100 Verbrechen untersuchte die Sonderkommission zum Majdan; sie befragte 20.000 Zeugen und bearbeitete Tonnen an Dokumenten und Videos. Etwa 100 Verdächtige setzten sich vor allem nach Russland ab, und wurden zur Fahndung ausgeschrieben. An das Gericht weitergeleitet wurden Anklagen gegen 298 Personen; doch abgeurteilt wurden nur 56 :
Serhij Gorbatjuk : 27’53
"Von den 56 Personen bekam die Mehrheit bedingte Haftstrafen, nur 12 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt. Das sind vor allem Schlägertrupps, die sogenannten Tituschki; die Höchststrafe betrug viereinhalb Jahre; die Mehrheit dieser Verurteilten hat ihre Strafe bereits abgesessen. Nur etwa ein Fünftel der Verurteilten sind Polizisten; das sind insgesamt sechs Personen; das sind vor allem Angehörige der Nationalgarde und der Sondereinheit Berkut, die eine Person gefoltert und bei frostigen Temperaturen entkleidet haben; doch das waren keine Freiheitsstrafen. Mit dieser Person haben die Polizisten einen Vergleich geschlossen. Dann gibt es noch einige Berkut-Fälle, die das Schlagen von Demonstranten auf der Straße betreffen.
Serhij Gorbatjuk leitete die Sonderbehörde fast fünf Jahre bis zum Jahre 2019; dann schied im Streit mit der Generalstaatsanwaltschaft aus seinem Amt; sein Nachfolger war zu keinem Interview bereit. Gorbatjuk traf auf eine Mauer des Schweigens bei möglichen Zeugen der Sicherheitsorgane. Andererseits kam bisher auch niemand vor Gericht, der verdächtigt wird, Polizisten ermordet zu haben:
Serhij Gorbatjuk : 29’16
"Zu Beginn des Jahres 2018 hatten wir zwei Personen ermittelt, die der Ermordung von zwei Polizisten und des Mordversuchs an einem weiteren Polizisten verdächtigt wurden. Doch der damalige Generalstaatsanwalt änderte eigenmächtig die Gruppe der Staatsanwälte, unterstellte sie seiner Stellvertreterin, und de facto wurde durch verfahrenstechnische Entscheidungen die Überweisung der Ermittlungen an das Gericht blockiert - und zwar bis heute."
Das ukrainische Parlament beschloss sofort nach dem Sieg der Majdan-Bewegung ein Amnestie-Gesetz für praktisch alle Verbrechen, die Demonstranten am Majdan begangen haben. Erschwert wird dadurch auch die Aufklärung der Morde an Polizisten, unmöglich ist sie aber nicht:
Oleksandr Goroschinskij: 30’07
"Unter das Amnestiegesetz fallen Mord und Mordversuch an den Angehörigen der Polizei. Doch von diesem Gesetz nicht betroffen ist jener Paragraph des Strafgesetzbuches, der den vorsätzlichen Mord unter besonderen Vorzeichen und erschwerenden Umständen betrifft. Dieser Paragraph ist anwendbar und fällt nicht unter das Amnestiegesetz.
Unter der Bezeichnung „Himmlische Hundert“ verehren die Anhänger der Majdan-Bewegung jene Personen, die während der Revolution ums Leben kamen.
Vielen von ihnen verlieh Präsident Petro Porschenko im Herbst 2014 den Titel „Held der Ukraine“ sowie den Orden vom „Goldenen Stern“.
Unter seiner Führung begann die Heldenverehrung, wurde der Jahrestag des Majdan groß begangen und die Bezeichnung „Revolution der Würde“ geprägt, während die Aufklärung der Verbrechen kaum Fortschritte machten. Wie unter Poroschenko die Liste der „Himmlischen Hundert“ erstellt wurde, ist unklar. Klar ist aber, dass vor einigen Monaten Dokumente auftauchten, die massive Zweifel wecken, ob tatschlich alle Personen auf der Liste als Kämpfer während der Revolution gefallen sind. Ein Beispiel dafür ist Sergij Diditsch; nach offizieller Lesart starb er am 18.Februar 2014 bei Zusammenstößen mit der Sonderpolizei Berkut. Ein Urteil eines Bezirksgerichts in Kiew vom Oktober 2015 kommt zu einem anderen Schluss. Demnach nahm Diditsch zwar an den Demonstrationen teil; dabei wurde aber an dieser Stelle im Zentrum von Kiew von einem Auto angefahren, das der Demonstrant Leonid Bibik lenkte, und starb an den Folgen Verkehrsunfalls. Bibik gestand seine Schuld; trotzdem sprach ihn der Richter frei – unter Anwendung des Amnestie-Gesetzes für Majdan-Demonstranten.
Umstritten ist in der Ukraine nicht nur, ob dieser zweifellos tragische Tod Orden und Heldentitel rechtfertigt. Die populäre Talk-show „Schuster“, die dem Thema Majdan befasste, war äußert konfrontativ. Enthüllt hat die zweifelhaften Personen auf der Liste der „Himmlischen Hundert“ Elena Lukasch; sie war ein Jahr Justizministerin unter Präsident Viktor Janukowitsch; sie ist für alle Majdan-Befürworter ein rotes Tuch. Lukasch führt einen Kampf gegen diese Revolution insgesamt. Für sie ist der Majdan ein Staatsstreich, der die Ukraine ins Unglück stürzte. Doch das ändert nichts daran, dass die von ihr vorgelegten Dokumente bisher niemand widerlegt hat.
Ein besonders markantes Beispiel ist der Fall Olga Bura, ebenfalls „Held der Ukraine“. Sie starb nach offizieller Lesart an den Folgen einer Wunde, die sie am Majdan erlitt. Die 28-jährige starb allerdings erst am 10. März, mehr als zwei Wochen nach dem Sieg der Revolution. Damals waren noch Anhänger der Bewegung am Majdan präsent. Dokumente belegen jedoch eine Todesursache, die nichts mit der Revolution zu tun hat:
Elena Lukasch: 33’32
"Nach Angaben von Zeugen dieser Strafsache half sie in der Küche auf dem Majdan. Dort schnitt sie sich in den Finger, entweder durch ein Messer oder an einer Fischkonserve. Der Finger entzündete sich; die Verletzung wurde immer schlimmer, weil Olga zunächst nicht zum Arzt ging. Schließlich tat sie es doch, und der Arzt entschied, den Eiter operativ zu entfernen. Davor bekam Olga eine Spritze mit Lidocain, einem örtlich wirkenden Betäubungsmittel. Olga entwickelte eine Allergie dagegen, erlitt einen allergischen Schock und starb. Das Verfahren gegen den Arzt wegen seines Kunstfehlers ist bis heute nicht abgeschlossen."
Verbunden sind mit dem Status der „Himmlischen Hundert“ auch finanzielle Zuwendungen:
Elena Lukasch: 34‘ 57
"Die Verwandten der Helden bekamen und bekommen enorme Beträge. Für den Tod eines derartigen Helden wurde umgerechnet 35.000 Euro sofort ausbezahlt; dazu kommen weitere Zuwendungen aus dem staatlichen und lokalen Budgets, sowie wohltätige Zuwendungen. Bis jetzt hat der ukrainische Staat bereits mehr als neun Millionen Euro den Angehörigen dieser Helden ausbezahlt. Ich schätze, dass mindestens die Hälfte ohne Grundlage erfolgt. Doch im Bewusstsein der Menschen ist der Begriff der hundert Helden für die Demokratie bereits verankert."
Warum derartige Personen auf die Liste kamen ist unklar; denn sie schmälern doch eigentlich das Ansehen und den Opfergang jener, die tatsächlich im Kampf fielen - für eine Ukraine ohne Korruption und ohne russische Dominanz.
Der politische Konflikt um den Majdan und seine Deutung wird verständlich, wenn man zwei Dinge bedenkt: erstens die große Zahl der Opfer, und zweitens welche Ereignisse auf diese Revolution folgten.
Am 21. Februar 2014, einen Tag nach dem Blutbad, unterzeichneten Präsident Viktor Janukowitsch und drei Vertreter der Opposition einen Kompromiss zur friedlichen Beilegung des Konflikts. Anwesend waren auch drei Außenminister der EU. Vorgesehen waren unter anderem vorgezogene Präsidentenwahlen im Dezember 2014. Die Führung des Majdan akzeptierte diese Lösung nicht. Janukowitsch floh noch in der Nacht aus Kiew und setzte sich schließlich nach Russland ab. Während die neue Führung der Ukraine vollauf damit beschäftigt war, ihre Macht zu festigen, handelte Russland.
Der erste Schlag betraf die Halbinsel Krim, den einzigen Kreis der Ukraine mit einer russischen Bevölkerungsmehrheit. Erleichtert wurde die Annexion durch drei Faktoren: die beträchtliche Ablehnung der Majdan-Bewegung durch die lokale Bevölkerung, das de facto Machtvakuum und politische Chaos in Kiew, und drittens durch die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel. Die kleinen „Grünen Männchen“, russische Soldaten ohne Dienstgradabzeichen besetzten den Flughafen von Simferopol und alle anderen wichtigen Gebäude. Keinen Widerstand leisteten ukrainische Truppen; nur die Minderheit der Krim-Tataren wagte auch öffentliche Proteste. Bei einem sogenannten Referendum, das keinen demokratischen Standards entsprach, wurde im März 2014 die Annexion dann vollzogen. Das größte Problem der Halbinsel ist nach wie vor die Wasserversorgung, weil Kiew den Kanal gesperrt hat, der die Hauptversorgungsader war. Die Krim ist sechs Jahre später aus den Schlagzeilen verschwunden, doch die Annexion wird das Verhältnis zwischen Moskau und Kiew auf viele Jahre hinaus belasten.
Die Ostukraine mit den Kreishauptstädten Donezk und Lugansk war der nächste Krisenherd.
Auch in Donezk war die Bevölkerung in ihrer Haltung zum Majdan gespalten. Hinzu kommt, dass Viktor Janukowitsch aus diesem Kreis stammte. Aus einem innenpolitischen Konflikt wurde ein Sezessionskrieg, in den auch Russland immer aktiver eingriff je drohender die Niederlage der Seperatisten wurde. Schließlich verlor Kiew den Krieg und war gezwungen, im Februar 2015 in Minsk einen Friedensplan zu akzeptieren, der bis heute in der Ukraine höchst umstritten ist und nach wie vor nicht umgesetzt wurde. In der Ostukraine wurde aus dem Bewegungskrieg mit den Jahren ein Stellungskrieg an der mehr als 400 Kilometer langen Frontlinie. Mindestens 13.000 Menschen starben bisher in diesem Krieg. Petro Poroschenko mutierte in seiner Politik vom Friedensbringer zum Kriegspräsidenten; ernsthafte Versuche einer friedlichen Lösung waren in seiner Amtszeit ebenso selten wie ein ernsthafter Kampf gegen die Korruption.
Im April 2019 erlitt Poroschenko bei der Präsidentenwahl eine erdrutschartige Niederlage und der politische Kabarettist Volodimir Selenskij wurde sein Nachfolger. Selenskij erreichte den Wiederaufbau der Fußgängerbrücke bei Stanica Luganska, dem einzigen Übergang vom prorussischen Rebellengebiet in Lugansk auf Ukrainisch kontrolliertes Territorium; außerdem kam der Austausch von Gefangenen ebenso zustande wie ein neues Gipfeltreffen in Paris zum Krieg in der Ostukraine, doch eine dauerhafte Friedenslösung ist derzeit nicht in Sicht.
Innenpolitisch sind Selenskijs Erfolge eher bescheiden; nach nur sechs Monaten wechselte er den Regierungschef und weitere Minister aus. Eine klare Reformstrategie und wirklich vorzeigbare Erfolge im Kampf gegen die Korruption lassen bisher auf sich warten.
Ironisch könnte man sagen – die Ukraine ist in dieser Hinsicht ein stabiles Land. Stabil sind über die Jahre hinweg auch die Ergebnisse von Meinungsumfragen zum Thema Majdan, wobei es natürlich regionale Unterschiede gibt. Knapp 40 Prozent unterstützen die Revolution nach wie vor, zwischen sieben und zehn Prozent befürworten den sogenannten Anti-Majdan, lehnen die Revolution somit klar ab; weitere 40 Prozent unterstützen keines von beidem, der Rest hat keine klare Meinung:
Andrij Bitschenko: 40’38
"Die Mehrheit der Bürger meint, dass der Majdan gegen das aufstand, was ihnen ein anständiges Leben unmöglich macht. Obwohl es sich nicht aus der Untersuchung ergibt, denke ich, dass die Haltung zum Majdan viel besser wäre, wenn die Ziele des Majdan teilweise erreicht worden wären. Doch leider wurden die erklärten Ziele nicht nur nicht erreicht, sondern es herrscht teilweise der Eindruck, dass jene Politiker, die auf der Welle des Majdan zur Macht kamen, überhaupt nicht bemüht sind, diese Ziele zu erreichen. Wenn sich das nicht ändert, dann ist es möglich, dass wir in einigen Jahren wieder einen Majdan haben werden. Die Bedeutung der Themen des Majdan wird mit der Zeit zurückgehen, doch die Gründe, die zum Majdan führten, bleiben leider weiter aktuell."
Weiter aktuell bleibt auch die Frage, warum die Ereignisse am Majdan nach all diesen umfangreichen Ermittlungen nicht endlich aufgeklärt werden. Dieser Widerstand in großen Teilen der politischen Elite könnte damit verbunden sein, dass man unliebsame Erkenntnisse vermeiden will:
Vassil Filiptschuk: 41’49
"Wenn der Majdan ein Verbrechen von Präsident Viktor Janukowitsch gegen die Ukrainer war, dann ist alles was nach dem Majdan kam logisch und richtig. Wenn der Majdan aber ein Ergebnis von Fehlern beider Seiten war, dann sind jene, die an die Macht kamen nicht legitim, dann kann man sie in Frage stellen, und alles kann zu unvorhersehbaren Folgen und zu gefährlichen Diskussion führen; daher will niemand darüber sprechen."
Eine umfassende Aufklärung müsste zweifellos die Vielschichtigkeit der Akteure und ihre unterschiedlichen Motive berücksichtigen:
Serhij Gorbatjuk: 42’31
"Derartige Ereignisse können weder absolut sauber noch einfach sein, wo es eine klare Trennung zwischen Gut und Böse gibt. Die Mehrheit der Menschen ging auf den Majdan, weil sie erzürnt war durch die Gewaltanwendung der Sicherheitsorgane, durch die Reaktion der Staatsführung, wegen der Korruption im Staate und wegen der außenpolitischen Kursänderung von der EU hin zu Russland. Diese Menschen wollten Veränderungen im Land. Doch es gab Kräfte, die die Macht wollten, andere wollten an der Macht bleiben, dritte Kräfte wollten die Proteste für ihre geopolitischen Ziele nutzen. All das hat sich vermischt. Eine Aufklärung ist erreichbar, wenn Justiz und Regierung die Bedingungen dafür schaffen. Doch wie unter Präsident Petro Poroschenko so fehlen auch heute die notwendigen Bedingungen, damit dieser Prozess objektiv sein und vollständige Resultate bringen kann."
Am 20. Februar gedachten auch Volodimir Selenskij und seine Gattin der Opfer des Majdan. Der Aufenthalt bei der Gedenkstätte war äußerst kurz; eine Stellungnahme zur Revolution gab der Präsident in keiner Form ab, doch er traf auch mit Hinterbliebenen der Opfer zusammen. Volodmir Selenskij verdankt seine Wahl nicht der Revolution, wiewohl er in einem Wahlkampfspot sehr wohl das Thema Majdan aufgriff. In der Rolle des Präsidenten beschenkt er Beamte am Tag der Unabhängigkeit mit Armbanduhren; doch die eingravierten Namen stimmen nicht mit den Namen der Beschenkten überein. Das sei kein Irrtum, betont der Präsident:
Volodimir Selenskij, (Wahlkampfspot): 44’16
„Auf diesen Uhren stehen die Namen der Menschen, die auf dem Majdan gestorben sind. Und ich möchte sehr, dass Sie sich diese Uhren jedes Mal ansehen, ehe Sie Gesetze erlassen, oder Banditen gegen Kaution freilassen, Schmiergelder geben, oder mit Tarifen jonglieren, und sich daran erinnern, für wen Sie hier sind, wofür Sie hier sind und ob für wie lange?“
Seit der Revolution ist für eine historische Einordnung des Majdan zu wenig Zeit vergangen. Sie wird wohl davon abhängen, ob die berechtigten Forderungen der friedlichen Demonstranten je erfüllt werden; oder ob Historiker dereinst zum Schluss kommen müssen, das die politischen Eliten der Post-Majdan-Ära trotz Krim und Krieg die Ukraine so weiter regiert haben wie davor.