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Die Lage in den Rebellengebieten vor Paris

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Berichte Ukraine

Nach mehr als drei Jahren findet am kommenden Montag in Paris wieder ein Gipfeltreffen zur Ukraine statt. Daran teilnehmen werden die Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Russlands, Frankreichs und Deutschlands. Möglich wurde das Treffen nicht zuletzt durch den Machtwechsel in Kiew. Während der frühere Präsident Petro Poroschenko ganz auf die nationalistische Karte setzte, unternimmt sein Nachfolger, Volodimir Selenskij, einen neuen Anlauf für eine Friedenslösung. Dazu zählen die Truppenentflechtung an drei Frontabschnitten sowie der Wiederaufbau der Fußgängerbrücke bei Stanica Luganska, dem einzigen Übergang von der prorussischen Rebellenhochburg Lugansk auf Ukrainisch kontrolliertes Territorium. Außerdem hat die Ukraine die sogenannte „Steinmeier-Formel“ akzeptiert, die vorsieht, in welcher Abfolge wichtige Punkte des Friedensplanes von Minsk umgesetzt werden sollen. Am Zug ist daher nunmehr auch Russland, das die Rebellengebiete auf allen Gebieten massiv unterstützt. Trotzdem und trotz des Überlebenswillens der Bevölkerung ist die Lage der Bevölkerung in diesen Gebieten äußerst schwierig. Unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz war in diesen Tagen wieder auf dem Rebellengebiet und auf beiden Seiten der Frontlinie unterwegs – hier sein Bericht:

Das Dorf Metschetka liegt 50 Kilometer südlich von Lugansk. Ein Drittel der Häuser ist verlassen; Grund ist die massive Landflucht; obwohl seit 2015 Ruhe herrscht, sind die Kriegsfolgen und die Folgen jahrzehntelangen Verfalls weiter spürbar; viele Jüngere zogen in die Städte oder arbeiten in Russland. Metschetka war das Ziel einer Patrouille der OSZE-Beobachter; diese führte die Österreicherin Emma Vincent; gemeinsam mit ihrer Dolmetscherin nimmt sie Kontakt mit einer Bewohnerin auf; ….

gefragt wird nach den Lebensumständen oder nach humanitärer Hilfe. Diese Befragungen fließen in die Berichte der OSZE ein. Die Lage im Dorf beschreibt Emma Vincent so:

"Es gibt natürlich immer wieder Versorgungsschwierigkeiten mit Strom; im Winter werden hier die Straßen nicht geräumt, die nächste Bushaltestelle ist einen Fußmarsch entfernt; hier im Ort sind fünf Kinder, die in den Kindergarten gehen; wenn jemand ein Auto hat, dann setzt man sie in ein Auto; dieser Ort hat das Glück, ein Geschäft zu haben, es gibt kein Postamt, es gibt keine medizinische Grundversorgung."

Hausbesuche sind OSZE-Beobachtern nicht gestattet, uns Journalisten aber schon. Vor seinem Häuschen treffen wir den 53-jährigen Alexander, der allein in Metschetka lebt. Er hat Hühner, Kaninchen und zwei Schweine. Alexander lädt uns auf Brot und selbstgebrannten Wodka in seinen zentralen Wohnraum ein. Seine Verhältnisse beschreibt Alexander so:

„In sowjetischer Zeit arbeitete ich in der Kolchose; da habe ich in Natura eine Tonne Getreide bekommen, die bekomme ich auch weiter. Und von der Kohlegrube bekomme ich sechs Tonnen Kohle. Im Haus ist es warm, und mit dem Getreide füttere ich auch die Hühner.“  (20)

Der Mann bekommt von den prorussischen Rebellen eine Pension von knapp 120 Euro. Das letzte Mal auf ukrainischer Seite war er vor fünf Jahren; warum fährt er nicht auf die ukrainische Seite, um seine Pension zu beheben? Dazu sagt Alexander:

„Alter und Gesundheit erlauben es nicht, dorthin zu fahren. Dort könnte man die Pension bekommen; doch ich müsste einmal in zwei Monaten fahren, sonst verliert man die Pension. Wozu das; ich bekomme hier meine Pension, dorthin müsste ich fahren und Schlange stehen.“ (19)

Fünf Übergänge gibt es über die 400 Kilometer lange Frontlinie; der Übergang bei Lugansk ist nur eine Fußgängerbrücke, die erst vor einem Monat, nach drei Jahren Streit, wieder aufgebaut wurde, vor allem auf Initiative des ukrainischen Präsidenten Volodimir Selenskij. Beide Konfliktparteien haben den Transport von und zur Brücke durch Autobusse erleichtert; auch auf Rebellenseite fahren die Busse zügig; trotzdem besteht Unmut unter den vor allem älteren Personen, weil man bei Wind und Kälte Schlange stehen muss; eine Pensionisten sagt:

„Das österreichische Fernsehen ist hier für A und F. Das Fernsehen aus Lugansk müsste hier sein. Was soll ich Ihnen sagen; machen Sie Ordnung, oder, dass mehr Autobusse kommen.“ (14)

80 Personen starben an den Strapazen auf der Brücke; Unverständnis herrscht, dass die ukrainische Pension nicht gleich auf Rebellenseite ausgezahlt wird. Irina, eine blonde Frau mit weißer Haube und weißem Anorak, fragt:

„Warum öffnet man hier keine Schalter bei der OSZE oder beim Roten Kreuz, um die Pensionen auszuzahlen. Dann müsste man nicht auf die andere Seite fahren, und das ist für alte Menschen sehr schwierig. Das hier nennt man den Weg des Todes, weil es hier täglich einigen Menschen sehr schlecht geht.“ (20)

Trotzdem hat sich die Lage bei Stanica Luganska spürbar verbessert. Die neue Brücke und die Truppenentflechtung bei den Orten Petrivske und Zolotoe sind Schritte, die Anlass zur Hoffnung geben. Bei Zolotoe, ukrainisch Zolote, geht die Frontlinie durch den Ort; vier Bezirke liegen auf ukrainischer Seite, Zolotoe 5 auf Seite der prorussischen Rebellen. Im Zentrum sieht man kaum Menschen, Spuren des Artilleriebeschusses sind deutlich sichtbar.

Die meisten Menschen trifft man in der Grundschule; 14 Lehrer unterrichten hier 85 Kinder; in den zehnten und elften Klassen gibt es nur mehr jeweils vier Schüler. Die Abwanderung aus den Frontgebieten ist auf beiden Seiten stark. Mehr als 40 Fenster hat das Rote Kreuz erneuert, einige weisen bereits wieder Löcher durch Granatsplitter auf und sind mit Plastik verklebt. Wasser wird zwei Mal pro Woche angeliefert. Die Lage in Zolotoe5 beschreibt die Direktorin, Marina Tkatschenko, so:

„Es gibt hier noch eine psychiatrische Klinik, in der alle Betten besetzt sind; es gibt viele Kranke; es gibt behinderte Menschen, die ohne Heim sind, und jetzt dort im Krankenhaus leben. Wir haben keine Therapeuten, ein Kinderarzt kommt einmal pro Woche aus dem Krankenhaus der Stadt Pjervomajsk hierher.“ (24)

Und wie hat sich die Truppenentflechtung ausgewirkt? Marina Tkatschenko:

„Das hat unsere Lage sehr beeinflusst. Wir leben und unterrichten ruhiger, obwohl noch gelegentlich geschossen wird. Wir kommen wieder etwas zu uns. Wir waren schon an der Grenze, das alles zu ertragen; die Angst um die Kinder, um unsere Verwandten war enorm, das war eine enorme psychische Belastung.“ (23)

 

Doch noch gibt es keinen Übergang über die Frontlinie, obwohl die ukrainische Seite dafür die Infrastruktur bereits geschaffen hat. Vor dem Krieg dauerte es 20 Minuten, um Freunde und Verwandte zu besuchen, war Zolotoe ein Ort. Nun dauert die Umfahrung 18 Stunden, statt fünf Kilometern sind 300 Kilometer zu fahren und der Kontrollposten bei Stanica Luganska zu passieren. Trennend wirken fünf Jahre Krieg auch auf familiäre Beziehungen, erläutert die Administratorin der Schule, Natalija Lisizkaja:

„Ich sage es ehrlich; auf unserer Seite unterstützen wir diese Führung; auf der anderen Seite unterstützen sie ihre Führung; wahrlich, wir verstehen einander nicht. Es gibt Verwandte, die sich so zerstritten haben, dass sie miteinander nicht mehr sprechen. Doch es gibt keine Regel.“ (23)

Das ukrainische Theater in der prorussischen Rebellenhochburg Lugansk zeigt, dass es aber noch Anknüpfungspunkte gibt. 30 Prozent der Stücke werden weiter in ukrainischer Sprache aufgeführt; die Aufnahme durch das Publikum beschreibt Chefregisseur Anatoli Jaworskij so:

"Sehr gut; einige Zuschauer schreiben uns ins Gästebuch, dass sie sich nach ukrainischen Liedern und Stücken sehnen; so haben wir auch dieses Thema aufgegriffen, ein klassisches ukrainisches Thema, das wir aber nicht in klassischer Form aufführen. Viele Zuschauer wollen ukrainische Klassik, ukrainische Lieder und alles, was die Ukraine betrifft." (44)

Ein Beispiel war jüngst das Volksstück „Der Heiratsmarkt“, bei dem alte ukrainische Texte und Lieder modern arrangiert wurden. Das Haus war ausverkauft, der Applaus groß. Ob es nach dem Ukraine-Gipfel am Montag in Paris für die Bevölkerung der Ostukraine ebenfalls Grund zur Freude gibt, wird sich zeigen.

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