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Selenskij ein ukrainischer Kennedy?

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Berichte Ukraine

In der Ukraine zeichnet sich immer deutlicher ein tiefgreifender Machtwechsel ab, den es in diesem Land seit der Unabhängigkeit vor 28 Jahren nicht gegeben hat. Nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen kann die Partei von Präsident Volodimir Selenskij offensichtlich mit einer klaren absoluten Mehrheit im Parlament in Kiew rechnen. Doch werden Selenskij und seine völlig neue Partei „Diener des Volkes“ diese Chance nützen und die großen wirtschaftlichen Herausforderungen meistern können. Darüber hat in Kiew unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz mit dem Wirtschaftsexperten Oleg Ustenko gesprochen, den Selenskij zu seinem Berater in Wirtschaftsfragen ernannt hat; hier der Bericht:

In der Ukraine wiegt die Erblast schwer, die der abgewählte Präsident Petro Poroschenko und seine Koalition im Parlament Volodmir Selenskij hinterlassen haben. Die Prognose für das heurige Wirtschaftswachstum lag bei nur etwa zwei Prozent, nur 1,5 Milliarden US-Dollar an ausländischen Direktinvestitionen waren zu erwarten und die Korruption blüht. Poroschenkos Nachfolger konnte in den vergangenen zwei Monaten noch kaum konkrete Maßnahmen setzen, doch mit seiner Tour durch das Land vermittelt Volodimir Selenskij die Botschaft, dass vieles anders wird. Dazu sagt in Kiew der Wirtschaftsexperte Oleg Ustenko:

"Die Menschen schöpfen wieder Hoffnung. Auch in der Wirtschaft kehrt das Vertrauen zurück, das aber noch zerbrechlich ist. Selenskij spielt die Rolle eines ukrainischen Kennedy, weil seine Wahl als Außenseiter gezeigt hat, dass Änderungen möglich sind und das zeigte auch die Parlamentswahl. Ich sehe, dass das Interesse ausländischer Investoren wächst, das ist noch schwach; doch ich bekomme mehr Anfragen von Investoren und das gab es nicht zu Jahresbeginn und nicht in den Jahren davor. Da hörte ich nur die Frage, wann wird die Korruption geringer und die Rechtssicherheit besser werden."

Groß sind die Herausforderungen vor allem 2020; die Ukraine braucht etwa zehn Milliarden US-Dollar an Devisen; staatliche Auslandsschulden in Höhe von sechs Milliarden müssen beglichen und auch das Außenhandelsdefizit von vier Milliarden muss finanziert werden. Die beste Möglichkeit sei frisches Geld durch den Internationalen Währungsfond, das aber an Reformen gebunden sein wird, die ohnehin überfällig seien, betont Oleg Ustenko. Doch die Herausforderungen gehen über finanzielle Fragen hinaus; sie beschreibt der Wirtschaftsexperte so:

"In der Ukraine ist die Lage sehr schwierig; folgende Herausforderungen bis zum Ende des nächsten Jahres bestehen: gestoppt werden muss die massenhafte Auswanderung, zweitens muss die finanzielle Stabilität des Landes gesichert werden, drittens muss die Wirtschaft rascher wachsen, damit die Menschen eine Perspektive sehen; viertens muss das Vertrauen in das Land wieder hergestellt werden, sonst kann die Wirtschaft nicht funktionieren. Dieses Land im Herzen Europas liegt beim Zufriedenheitsindex ganz unten in der weltweiten Rangliste. Das ist einfach abnormal. Das ist nicht mehr nur eine wirtschaftliche Frage; da geht es um das Überleben des Landes.“

Noch offen ist, wie die künftige Regierung der Ukraine aussehen wird. Klar ist bereits, dass mehr als die Hälfte aller Abgeordneten im Parlament neu in der Politik sind. Was bedeutet das für die Wirtschaftspolitik? Oleg Ustenko ist optimistisch:

"Das halte ich nicht für schlecht. Die ganze Zeit war die Ukraine eine Geißel von Sonderinteressen von Abgeordneten. Nun werden mehr als 50 Prozent aller Abgeordneten neu sein; sie sind noch nicht verseucht mit diesen Sonderinteressen, und es gibt keine Zeit, um derartige Interessen aufzubauen. Ich bin kein Idealist. Natürlich werden die Oligarchen ihre Vertreter in jeder Partei im Parlament haben, doch sie sind bei weitem nicht so stark wie früher. Außerdem glaube ich nicht, dass die Oligarchen eine gemeinsame Linie finden werden, dazu fehlt das Vertrauen; daher wird der Einfluss der Oligarchen abnehmen und daher hat das Parlament die einzigartige Chance, das oligarchische System zu zerstören."

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