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Reportage aus der Geburtsstadt von Selenskij

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Berichte Ukraine

Am Ostersonntag ist der 41-jährige politische Kabarettist Wolodimir Selenskij zum neuen Präsidenten gewählt worden. Selenskij gewann 73 Prozent der Stimmen; noch höher war sein Stimmenanteil in der Süd- und Ostukraine; dazu zählt auch seine Heimatstadt Krivij Rih in der Südukraine, wo etwa 90 Prozent der Wähler für Wolodimir Selenskij stimmten. Unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz war in der Industriestadt Krivij Rih und hat die folgende Reportage über die Heimat des neuen Präsidenten der Ukraine gestaltet:  

Krivij Rih liegt etwas mehr als 400 Kilometer südlich von Kiew und zählt etwa 600.000 Einwohner. Flächenmäßig ist die Stadt etwa so groß wie Wien, doch mit mehr als 120 Kilometern Nord-Süderstreckung zählt Krivij Rih zu den längsten Städten Europas. Über dem Tor der Schule, die Wolodimir Selenski besuchte, steht in ukrainischer Sprache geschrieben: „Nur Wissen gibt wirkliche Freiheit!“ Ob dieses Motto bereits zu Selenskijs Zeiten gegolten hat, ließ sich nicht ermitteln; wenn ja, war die Aufschrift damals in russischer Sprache verfasst. Denn der 1978 geborene Selenskij beendete das Gymnasium 1995, die erste Klasse in ukrainischer Sprache wurde aber erst 1996 eingerichtet. Die Direktorin der Schule zeigt uns einige Fotos des Schülers, ein schmächtiger Junge mit verschmitztem Lächeln. Sein Physiklehrer, der nun 65-jährige Wolodimir Tignjan, beschreibt ihn als unauffälligen aber gewissenhaften Schüler:

"Er war ein gewissenhafter Schüler, der gute Noten bekam. Ich war überrascht von seinem Wissen, zumal er nicht einen naturwissenschaftlichen, sondern einen geisteswissenschaftlichen Zweig besuchte. Seine Interessen waren gerichtet auf Fremdsprachen, Literatur, Schauspielerei, Singen, Musik und so weiter. Mit all diesen Dingen befasste er sich mit großer Freude. Physik war ein notwendiger Gegenstand, dem er sich gewissenhaft widmete, als normaler guter Schüler."

Auch die Bühne in der Schule ist noch dieselbe auf der Selenskij seine ersten Auftritte absolvierte. Über der Bühne steht noch die Bezeichnung des jüngsten Festivals, das der Ökologie gewidmet war. Umweltschutz hätte die Stadt, auf die zehn Prozent der Industrieproduktion der Ukraine entfällt, bitter nötig. Denn ganz vorne liegt Krivij Rih in der Ukraine auch bei den Erkrankungen an Krebs und Tuberkulose. Bewusstseinsbildung bei Schülern betreibt ein Dachverband an Nicht-Regierungsorganisationen mit dem vielsagenden Namen „Genug Vergiftet“. Zu den Aktivistinnen zählt die Industrie-Ökologin Ana Ambrusowa, die einen Großinvestor aus Indien, für die schwersten Umweltsünden verantwortlich macht:

"Die Eigentümer von Unternehmen streben danach zu sparen, vor allem wenn ihnen das die Gesetzgebung ermöglicht. Die größten Betriebe in der Stadt gehören der Gruppe Metinvest sowie dem größten Verschmutzer der Ukraine, der für 80 Prozent der Verschmutzung der Stadt und für 40 Prozent der Verschmutzung des Bezirks verantwortlich ist, was die Schadstoffemissionen betrifft. Das ist ein indischer Konzern; der Eigentümer ist kein Ukrainer, sondern ein Inder, die Konzernsitze sind in London und Luxemburg; ein Mensch, der so weit weg lebt, will Einnahmen, das Problem der Bewohner dieser Stadt betrifft ihn nicht."  

Umweltschutz zählt nicht zu den Kompetenzen des ukrainischen Präsidenten; ob Wolodimir Selenskij auf diesem Gebiet Akzente setzen will, ist offen; im Wahlkampf blieb er auch zu diesem Thema grundlegende Aussagen schuldig, und so sind sich auch die Bürger seiner Heimatstadt Krivij Rih nicht im Klaren, was der neue Präsident ihnen und der Ukraine bringen wird.

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