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Vor Stichwahl in der Ukraine

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In der Ukraine findet am Sonntag die Stichwahl um das Amt des Präsidenten statt. Im ersten Wahlgang am 31. März erreichte Amtsinhaber Petro Poroschenko mit etwa 14 Prozent die Stichwahl. Doppelt so viele Stimmen bekam der politische Kabarettist Wolodimir Selenskij; nach allen Umfragen liegt er nun ganz klar vor Proschenko in Führung. Zwischen den beiden Kandidaten gab es nun ein wochenlanges Tauziehen um eine direkte Konfrontation, die nun heute, am letzten Tag des Wahlkampfes, am Karfreitag, in einem Fußballstadion in Kiew stattfinden soll. Der Wahlkampf bis zur Stichwahl war außerordentlich schmutzig und wurde vor allem vom Stab von Präsident Petro Poroschenko auch mit massiven persönlichen An- und Untergriffen gehen Wolodimir Selenskij geführt. Abgesehen vom Fernsehen spielten das Internet und die sozialen Netzwerke eine außerordentlich wichtige Rolle. Unser Ukraine-Korrespondent, Christian Wehrschütz, hat auch auf all diesen Medien den Wahlkampf verfolgt und für das kommende Europajournal den Beitrag über die Wahl der Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen Oligarch und Kabarettist gestaltet:

Präsident Petro Poroschenko hat nach seiner massiven Niederlage im ersten Wahlgang den Stil seiner Kampagne stark verändert und setzte auch inhaltlich zusätzliche Schwerpunkte. Er suchte nun das sogenannte Bad in der Menge, die in der Regel aber aus seinen Anhängern und kaum aus einfachen Wählern bestand. Außerdem ging er auf direkten Konfrontationskurs zu dem Favoriten Volodimir Selenskij und forderte ihn zu einer Fernsehdebatte auf, die beide Kandidaten vor dem ersten Wahlgang noch vermieden hatten. Selenskij beharrte als Austragungsort auf einem Fußballstadion in Kiew und als Tag auf den heutigen Karfreitag. Denn ab Mitternacht herrscht Wahlschweigepflicht, daher kann das Team des politisch viel erfahreneren Poroschenko aus der TV-Debatte kein Kapital mehr schlagen. Poroschenko forderte daher einen früheren Termin, kam zu allen sich bietenden TV-Sendungen, in einem Fall sogar ungeladen, denen aber Selenskij fernblieb; den politischen Kabarettisten stellte Poroschenko bei einem Auftritt vor dem leeren Stadion, in das er Selenskij Mitte April geladen hatte, als undemokratischen Feigling dar. ….. Seinen Anhängern in Kiew rief Petro Poroschenko zu:

„Wenn er sich wieder fürchtet, dann werden wir ihn jeden Tag in jede Sendung einladen, damit die ganz Ukraine sieht, wen sie für die kommenden fünf Jahre wählt. Wolodimir Selenskij – ich denke sie hören zu, sie hören die Stimme Kiews und die Stimme der Ukraine.“

Massiv waren die persönlichen Untergriffe gegen Selenskij selbst. Er hatte ein Video produziert, das auf einer Straße spielt. Bei Rot warteten Passanten auf beiden Seiten; als die Ampel auf Grün springt gehen beide Gruppen aufeinander zu und umarmen einander. Selenskij kommt hinzu, geht voran und fordert die Ukrainer auf, das Trennende zu überwinden. Diesen Wahlkampfspot verfälschte Poroschenkos Team. Selenskij wird auf der Straße von einem LKW überfahren; das nächste Bild zeigt Kokain, das geschnupft wird mit dem Text: „Jedem sein Weg“. Wolodimir Selenskij unterstellte Poroschenkos Team ganz offen eine Drogenabhängigkeit: diese Vorwürfe gingen auch nach einem Drogentest weiter, dem sich beide Kandidaten unterzogen; der Präsident forderte in einem TV-Interview verpflichtende Drogentests für Kandidaten und unterstellte seinem Gegner ein mögliches Drogenproblem:

„Ich halte es für eine außerordentliche große Bedrohung, wenn der Verdacht besteht, dass eine Person Präsident und Oberkommandierender der Streitkräfte werden kann, bei dem nicht ausgeschlossen ist, dass er drogenabhängig ist. Denn die Drogenabhängigkeit eines Kandidaten ist eine direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit und auch für jeden Ukrainer, der entscheiden muss, ob er für Poroschenko oder Selenskij ist.“

In seinen Aussagen bemühte sich Poroschenko mehr um die Jugend, die vor allem für Selenskij gestimmt hatte, und widmete sich ausführlicher dem Krieg in der Ostukraine. Treu blieb er seiner Grundlinie, dass die Ukrainer die Wahl hätten zwischen ihm und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Poroschenko ließ sich sogar mit Putin plakatieren. Erst als ukrainische Nationalisten begannen, zwischen beide Konterfeis ein Ist-Gleich-Zeichen zu setzen, und Poroschenko wissen ließen, dass Putins Porträt in der Ukraine nichts verloren habe, wurden die Plakate abgenommen. Inhaltlich bot Poroschenko nichts Neues zu seiner politischen Linie; Russland müsse aus der Ostukraine durch die Sanktionen zum Abzug gezwungen werden, die Reformen würden fortgesetzt, der Beitritt zur NATO soll in vier Jahren beantragt werden.  

Andersgeartet waren die Untergriffe von Selenskijs Wahlkampfstrategen. So wurde ein Musikvideo produziert, indem zwei Männer mit den Köpfen von Poroschenko und dem gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch auftreten und zu einem Geldregen tanzen. Poroschenko wird unter anderem vorgeworfen, seinen Süßwarenkonzern Roshen nicht verkauft zu haben, obwohl er das zu Beginn seiner Amtszeit versprochen hat. „Petro geht zu Viktor“ laut der Titel des Liedes, der suggeriert, dass auch Poroschenko politisch am Ende ist. Selenskij nutzte vor allem soziale Netzwerke und YouTube für seine Botschaften. Rar machte er sich weiterhin bei TV-Auftritten, obwohl er inhaltlich konkreter wurde. Seinen außenpolitischen Kurs beschrieb er in einem TV-Interview so:      

„Unser Kurs ist ein Kurs der EU-Integration, niemand will ihn ändern. Ich bin auch für die NATO, doch wir müssen den Menschen erklären, was die NATO ist, dass sie kein Alligator ist, der die Ukraine auffressen will, sondern dass das für die Sicherheit des Landes ist. Davon muss man auch die Bewohner der Ostukraine überzeugen, denn im Westen sind alle für die NATO. Daher muss eine Volksabstimmung über den NATO-Beitritt stattfinden.“

In puncto NATO unterscheidet sich Selenskij somit ebenso von Poroschenko wie im Umgang mit den Bewohnern in den prorussischen Rebellengebieten. Unter Poroschenko wurde die Abschottung durch eine Wirtschaftsblockade massiv verstärkt, eine Politik der versuchten Reintegration ist nicht erkennbar. Selenskij will dagegen auch durch eine Informationskampagne auf diese etwa drei Millionen Ukrainer zugehen. Volodmir Selenskij:      

„Wir müssen jeden Menschen erreichen, der in dem besetzten Gebiet lebt und ihnen erklären, dass sie alle Ukrainer sind. Es reicht nicht, nur zu versprechen, sondern man muss diese Beziehungen erneuern. Dazu zählt, dass man den Menschen dort wieder die Pensionen auszahlt, denn das sind auch Ukrainer. Man muss ihnen sagen, dass man ihnen das Gehirn vernebelt hat, dass das ein Informationskrieg ist. Dass wir auf sie warten und sie lieben.“

Für den Sieg brauchen beide Bewerber Stimmen jener Kandidaten, die im ersten Wahlgang ausgeschieden sind. Dritte wurde die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit 13 Prozent. Für die Stichwahl gab sie ihren Wählern die Entscheidung frei. Timoschenkos langjähriger politischer Weggefährte, Grigorij Nemirija, bewertet die Kampagne von Wolodimir Selenskij und Petro Poroschenko so:

"Der amtierende Präsident stellte seinen Wahlkampf unter das Motto "Entweder ich, Petro Poroschenko, oder Wladimir Putin; das bedeutet, dass alle, die nicht für ihn für Putin sind. Meiner Ansicht nach ist diese Linie nicht gerechtfertigt und auch ein tiefgreifender Fehler, weil sie die Gesellschaft spaltet an statt zu konsolidieren. Das Angebot von Wolodimir Selenskij lautet, die Wahl zwischen der Zukunft oder der Vergangenheit. Ich gehöre zur strahlenden Zukunft, wo alles OK sein wird, während alle anderen zur Vergangenheit gehören; seine Losung lautet daher: wenn ihr mich wählt, wählt ihr die Zukunft."

Nach Umfragen kann Selenskij am Sonntag mit 6o bis 70 Prozent der Stimmen rechnen. Hat Poroschenko überhaupt noch eine Chance auf seine Wiederwahl? Dazu sagt Gregorij Nemirija:

"Wunder gibt es hin und wieder, doch in der Regel geschahen sie in der Vergangenheit, und darüber berichten uns Legenden, Geschichtsbücher und Volkssagen. Im gegebenen Fall sprechen alle Umfragen und der Abstand zwischen Petro Poroschenko und Wolodimir Selenskij nach dem ersten Wahlgang dafür, dass die Wahrscheinlichkeit bei 99 Prozent liegt, dass der Sieger im zweiten Wahlgang Wolodimir Selenskij sein wird."

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