UKraine Fünf Jahre nach dem Maidan
Berichtsinsert: Christian Wehrschütz aus der Ukraine
Kamera: Sascha Alexejew, Wassilij Rud
Schnitt: Barbara Katzelmayer
Gesamtlänge: 28 Minuten, 30 Sekunden
Insert1: Petro, Fremdenführer in Medjehirija
Insert2: Petro, Fremdenführer in Medjehirija
Insert3: Elisaweta, Studentin aus Kiew
Insert4: Elisaweta, Studentin aus Kiew
Insert5: Tamara Abolmasowa, (73) Mutter eines Gefallenen
Insert6: Tamara Abolmasowa, (73) Mutter eines Gefallenen
Insert7: Dmitri Lisowoj
Insert8: Kristina Lisowaja
Insert9: Dmitri Lisowoj
Insert10: Max Jakober, Direktor von Unit-Citi in Kiew
Insert11: Brian Fink, IT-Firma Ciklum in Kiew
Insert12: Oleg Ustenko, Wirtschaftsexperte in Kiew
Insert13: Uljana Suprun, amtierende Gesundheitsministerin
Insert14: Uljana Suprun, amtierende Gesundheitsministerin
Insert15: Alexander Wasiljew, Gemeinderat in der Gemeinde Klesiw
00‘07
Kriegsberichterstatter sind Grenzgänger; ich lebe zwischen den Fronten, weil ich mich von keiner Konfliktpartei manipulieren lassen will; daher versuche ich so gut es geht am Schauplatz zu sein. Das ist heute viel schwieriger als Kriegschaos vor fünf Jahren. Ironisch gesagt: um an Brennpunkte zu gelangen, gilt es zuvor viele bürokratische Herausforderungen zu meistern.
Ohne Papiere kein Zugang, kein Dreh und keine Bilder. In der Ukraine ist die Bürokratie schlimmer als am Balkan. Im Büro in Kiew steht mir meine Sekretärin Inna zur Seite. Für alles und jedes braucht man eine Genehmigung oder Akkreditierung. Das gilt natürlich auch für mein Drehteam aus Donezk, für Kameramann Wassilij und Fahrer Igor. Seit dem Sommer des Vorjahres hatten wir wiederholt Probleme.
Ukrainische Oligarchen beherrschen alle wichtigen TV-Sender; wer als prorussisch und unpatriotisch gilt, hat kein leichtes Leben. Selbsternannte patriotische Kräfte greifen auch zur Gewalt. Die größten Probleme haben natürlich ukrainische Medien. Im Zentrum von Kiew wurde der oppositionelle Journalist Igor Guschwa attackiert als er über eine Kundgebung von Nationalisten berichten wollte. Polizei und Justiz blieben untätig. Im Vorjahr gewährte Österreich dem Journalisten politisches Asyl, weil er glaubhaft machen konnte, dass seine Sicherheit in der Ukraine bedroht ist.
Über den Wahlkampf von Präsident Petro Poroschenko soll das Staatsfernsehen zu wenig berichtet haben. Sein Direktor wurde einen Monat vor der Wahl abgesetzt. Der Direktor erzwang seine Wiedereinsetzung durch Gerichtsbeschluss.
Je näher die Präsidentenwahl am 31. März rückt, desto schwieriger die Arbeit. Ob ich vor dem Wahltag wieder in die Ukraine einreisen darf, steht derzeit in den Sternen.
Sehr flexibel ist die politische Elite. So war Petro Poroschenko, rechts im Bild, auch Wirtschaftsminister unter Präsident Viktor Janukowitsch. Gemeinsam traten sie etwa im Jahre 2011 bei der Eröffnung des neuen Flughafens von Donezk auf, der heute nur mehr eine Ruine ist. Janukowitsch sitzt nun in Russland.
….
Verwaist ist sein Anwesen Medjehirija bei Kiew. Hier residierte Janukowitsch bis zu seinem Sturz im Februar 2014. Verwaltet wird das Gelände seit fünf Jahren von ehemaligen Aktivisten der Maidan-Revolution. Am Maidan als freiwillige Helferin im Einsatz war auch die 24-jährige Elisaweta. Sie studierte Serbisch an der Universität in Kiew, und dadurch lernten wir einander 2014 kennen als ich in der Ukraine zu arbeiten begann. Das luxuriöse Anwesen besucht sie zum ersten Mal.
Gebaut wurde die Residenz binnen drei Jahren von Gefolgsleuten von Janukowitsch aus Donezk. Das Haupthaus ist mehr als 600 Quadratmeter groß. Etwa eintausend Personen waren hier beschäftigt, Personenschützer nicht eingerechnet. Zusammengetragen wurde wahllos alles, was gut und teuer war.
Petro:
„Nach ihrer Buchhaltung kostete die Anlage zwei Milliarden US-Dollar. Die Kosten für die monatliche Instandhaltung betrugen vier Millionen US-Dollar, sie wurden aus dem Budget der Ukraine bezahlt.“
Der Luxus-Lift zählt zu den Gegenständen, die in der Ukraine erzeugt wurden. Petro trägt die Fahne der ukrainischen Nationalisten aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Vor der Revolution verkaufte er Gemüse in Lemberg. Selbst am Maidan im Einsatz kam er am 22. Februar 2014 nach Medjehirija, das Viktor Janukowitsch am Abend davor fluchtartig verlassen hatte. Die Vergoldung des Lusters soll 200.000 Dollar gekostet haben. Doch Dekadenz war und ist in der Ukraine nicht auf Viktor Janukowtisch beschränkt:
Petro:
„Wir kämpfen nicht gegen eine Person. Wir kämpfen gegen ein System, das kein Interesse daran hat, zerstört zu werden. Wir haben fünf Prozent Bürokraten, die in ihrem Leben nichts Schwereres in der Hand gehalten haben als Löffel und Gabel; sie verstehen, dass sie arbeiten müssen, wenn Ordnung herrscht, doch sie wollen sehr schön leben. Was Sie hier sehen, das sind Objekte mittlerer Klasse. Wir haben mindestens 500 Familien, die so leben.“
Elisaweta:
"Erstens ist das geschmacklos, zweitens ist das einfach nicht schön. Das ist kitschig, häßlich und sinnlos. Da kann man nur lachen? Völlig unverständlich ist, warum das Bad so eingerichtet wurde, vielleicht kommt das, wenn ein Mensch so viel Geld hat, dass er nicht weiß wohin damit."
Wahrscheinlich muss man nicht nur einen Vogel haben, um so viel Kitsch an einem Ort zu vereinen, denken sich viele Touristen nach der Führung. Doch nicht die Prunksucht brachte Janukowitsch zu Fall, sondern die Weigerung, das Assoziierungsabkommen mit der EU im November 2013 zu unterzeichnen.
Aus Protesten für die EU wurde rasch eine Bewegung gegen Präsident Viktor Janukowitsch und die massive Korruption, die in der Ukraine herrschte. Die EU als Thema trat zwar in den Hintergrund, die grundsätzliche Westorientierung der Ukraine und ihre Abkehr von Russland waren aber eine zentrale Forderung der Demonstranten.
Die drei Tage zwischen dem 18. und 20. Februar waren die blutigsten am Maidan. Insgesamt wurden fast 100 Personen getötet, darunter 13 Polizisten. Die Suche nach all den Mördern verläuft im Schneckentempo. Niemand will sich in der Ukraine mit der Frage befassen, in welchem Ausmaß nicht auch Scharfschützen auf Seiten der Demonstranten zur Eskalation beitrugen.
Fünf Jahre später ist der Maidan wieder friedliches Herzstück von Kiew und Gedenkstätte zugleich. Die Bänder verkaufen freiwillige Helfer, die nach wie vor Geld für Militärspitäler und Soldaten sammeln. Elisaweta selbst sammelte vor fünf Jahren Geld für Medikamente und half bei der Versorgung von Verletzten.
Die Gedenksteine für die sogenannten „Himmlischen Hundert“ zeigen die Gefallenen der Revolution. Bei vielen Aktivisten von damals herrscht großer Unmut gegenüber der politischen Führung:
Elisaweta:
„Alles, was die aktuellen Machthaber zum Maidan sagen, dient der Manipulation der Bevölkerung. Wovon sprechen sie, wenn keine einzige Untersuchung zu irgendeiner Bestrafung geführt hat. Das regt mich sehr auf, dass kein Schuldiger bestraft wurde. Das will niemand untersuchen, und das heißt, dass da etwas nicht sauber ist. Wahrscheinlich wird das niemand jemals aufklären; und daher stellt sich mir die Frage „Warum“? “
„Stopp dem Maidan“ – stand im Februar 2014 auf diesem Plakat bei der Landenge vom ukrainischen Festland auf die Halbinsel Krim. Der Sturz von Viktor Janukowitsch stieß hier auf starke Ablehnung. Russland nutzte seine Stützpunkte zur Annexion der Halbinsel. Russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen besetzten den Flughafen und andere wichtige Gebäude.
Eine Kampagne für den Anschluss setzte ein, Anhänger der Ukraine kamen nicht zu Wort; das sogenannte Referendum und den Anschluss verurteilen die Ukraine und die internationale Staatengemeinschaft als undemokratisch und als Annexion. Der Westen und die Ukraine betrachten auch die 19 Kilometer lange Brücke als illegal, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet. Im Sommer des Vorjahres drehte für mich ein lokales Team die Brücke und filmte auch mit meinem Handy. Daraus konstruierte Kiew sechs Monate später eine Anstiftung zur Verletzung der ukrainischen Souveränität – ein absurder Vorwurf, mit dem aber das Einreiseverbot gegen mich begründet wird.
Zweifellos schränkt die Brücke die Schifffahrt ein; darunter leidet besonders die Hafenstadt Mariupol. Die Zahl der Schiffe ging stark zurück, die den Hafen anläuft. Mariupol trifft auch Krieg in der Ostukraine, weil wichtige Betriebe auf den Gebieten liegen, die prorussische Rebellen kontrollieren.
Der Krieg in der Ostukraine ist nun ein Stellungskrieg. Vertreter der OSZE dokumentieren Verstöße gegen die Feuerpause. Die Gefechte haben nachgelassen, doch eine Friedenslösung ist nicht in Sicht. Von Artillerieduellen betroffen sind vor allem Orte, die an der Frontlinie liegen. Dazu zählt Peski, ein Vorort der Rebellenhochburg von Donezk. Wie viele Einwohner gibt es noch? „Vier dort, zwei hier und sechs dort.“
Die Ostukraine ist das Gebiet mit dem größten Minen-Problem weltweit. Im Februar fuhr ein Kleinautobus im Niemandsland zwischen den Fronten auf eine Mine oder einen Blindgänger auf. Zwei Insassen starben, weitere drei überlebten wie durch ein Wunder. Die Entminung all dieser Gebiete wird Jahrzehnte dauern.
Diese Gedenkstätte an einer Klostermauer in Kiew ist 80 Meter lang. Verewigt sind mehr als 3000 Soldaten, die in den Jahren von 2014 bis 2017 fielen. Auch der Sohn von Tamara Abolmasowa ist hier abgebildet. Geblieben sind ihr eine Tochter, eine Enkelin und die Schwiegertochter. Als sie über die Gedenkstätte spricht, wird Bitterkeit spürbar:
Tamara
"All das haben Mäzene finanziert; die Regierung war nur insofern beteiligt, dass unsere Burschen gefallen sind. Ich fürchte mich nicht, das zu sagen, bei uns gilt das freie Wort.“
Die Einzelschicksale sind über diese Säule abrufbar. Andrij Abolmasow war bereits am Maidan als Sanitäter im Einsatz; danach meldete er sich freiwillige an die Front. Im August 14 fiel er im Kreis Lugansk im Alter von 45 Jahren:
Tamara
„Ich will, dass die Erinnerung an unsere Kinder bestehen bleibt; das ist für mich heute mein ganzer Lebensinhalt.“
Doch Mütter trauern auch auf der anderen Seite der Front. Je länger der Krieg dauert, desto tiefer werden die Gräben, die auch die Menschen auf beiden Seiten trennen. Nur zu Fuß passierbar ist die Frontlinie zur Rebellenhochburg Lugansk ganz im Osten; seit mehr als vier Jahren können sich die Kriegsparteien nicht einigen, die Straße wieder aufzubauen.
30.000 Personen überqueren täglich die 450 Kilometer lange Waffenstillstandslinie. An den fünf Übergängen entsteht de facto eine neue Grenze. Anderseits können die Ukrainer seit Juni 2017 ohne Visum in die EU reisen, sofern sie einen biometrischen Reisepass besitzen. Einen derartigen Pass haben bereits mehr als zehn Millionen Ukrainer; die Anforderungen der EU an die Passsicherheit und an die Modernisierung der Grenzübergänge waren streng. Die Visa-Freiheit zählt zu den großen Erfolgen, die sich die ukrainische Führung, auf ihre Fahnen schreiben kann.
Auch dieses junge Ehepaar profitiert von der Reisefreiheit. Kristina ist 29, Dmitri 32 Jahre alt. Die Zwei leben in der Stadt Tschernihiw, die etwa so viele Einwohner hat wie Graz. Dank vieler ukrainischer Freunde im Ausland können sie sich Reisen leisten. Bereits zwei Wochen nach der Visafreiheit fuhren sie in die EU:
Dmitri
"Wir fuhren über die litauische Grenze. Der Zöllner war sehr überrascht, blätterte im Dokument und fragte: "Ihr dürft schon ohne Visum", man läßt euch schon? "Ja, man läßt uns schon ohne Visum." "Nun gut - ihr seid für mich die Ersten!" Er stempelte den Pass, und wir waren in Europa. Hier dauerte der Grenzübertritt etwa 20 Minuten, davor an der weißrussischen Grenze aber bis zu zwei Stunden."
Beim Einkaufen muss das junge Paar nicht jeden Groschen umdrehen.
Kristina und Dmitri zählen sich selbst zum ukrainischen Mittelstand. Gemeinsam haben sie etwa 850 Euro im Monat. Ein Liter Milch kostet etwa 80 Euro-Cent. Die Wohnung hat Dmitri von seiner Großmutter geerbt; dank staatlicher Zuschüsse betragen die Betriebskosten weniger als 30 Euro im Monat.
Kristina arbeitet im Marketing einer Firma, die Rücksäcke und Schultaschen aus Deutschland im Großhandel vertreibt. Die Firma ist Marktführer in der Ukraine. Im Gegensatz zu vielen Ukrainerinnen ist für Kristina Auswandern kein Thema:
Kristina
"Ich kontrolliere hier die Präsentation unserer Angebote im Internet. Im Ausland müsste ich Geschirrwaschen oder als Putzfrau arbeiten, das will ich nicht. Außerdem muss ich ja auch die Lebenshaltungskosten im Ausland einrechnen; und dann bliebe mir etwa derselbe Betrag übrig, den ich hier verdiene. daher hat Auswandern für mich keinen Sinn."
Dmitri will ebenfalls in der Ukraine bleiben; er arbeitet in einer Firma, die Stahltüren produziert und auch in Länder der EU exportiert. Der 32-jährige ist eigentlich Geschichtelehrer. Warum übt er diesen Beruf nicht aus?
Dmitri
"Der Grund liegt darin, dass ein Lehrer sehr wenig Geld verdient; mit diesen Einkünften könnte ich meine Familie nicht ernähren, daher arbeite ich etwas ganz anderes."
Tschernihiv wirkte noch bis vor fünf Jahren wie eine heruntergekommene sowjetische Stadt. Doch mit der finanziellen Dezentralisierung, die vor vier Jahren beschlossen wurden, bekamen die Gemeinden viel mehr Geld, begann sich die Spreu vom Weizen zu trennen. Tschernihiv hat einen aktiven Bürgermeister, der die Stadt auch für junge Bewohner lebenswert macht:
Dmitri
"Die Stadt hat einen großen Entwicklungssprung gemacht. In den vergangenen vier Jahren hat der neue Bürgermeister alle Straßen im Zentrum reparieren lassen; jetzt fährt man wie in einer europäischen Stadt und muss nicht mehr auf mögliche Löcher aufpassen. Gut funktioniert auch die Schneeräumung. Die Parks im Zentrum wurden erneuert, somit kann man wirklich auch Spazierengehen."
Auch in Kiew ist der Kontrast zwischen sowjetischem Erbe und modernster Entwicklung enorm. Ein Beispiel dafür ist Unit-Citi, ein Hochtechnologiezentrum, das auf dem Gelände einer verfallenen Motorenfabrik entsteht. 50 Millionen Dollar haben Ukrainer bereits investiert, mehr als 300 Millionen sind geplant. 1000 Studenten sollen hier kostenlos ausgebildet werden. Ein Großkonzern hat hier sein Fortbildungszentrum. 90 Firmen haben sich bereits angesiedelt, mehrheitlich aus der IT-Branche:
Max Jakober
"Studenten können bei Firmen ein Praktikum zu machen, die in der UNIT-Citi angesiedelt sind. Die einzige Bedingung ist, dass die Studenten nach der Ausbildung drei Jahre in der Ukraine arbeiten müssen, weil wir junge Fachkräfte in der Ukraine halten wollen."
Große IT-Firmen wie Ciklum haben damit kaum ein Problem, weil das Lohnniveau bereits fast dem in der EU entspricht. 3.500 IT-Ingenieure beschäftigt diese Firma in der Ukraine; nach der Landwirtschaft ist IT der zweitwichtigste Exportsektor:
Brian Fink
"Die Infrastruktur für die IT-Industrie ist jedem europäischen Land ebenbürtig, vielleicht sogar. Ich kann das mit Dänemark vergleichen. Die Internetgeschwindigkeit ist in der Ukraine sogar höher; auch die Mobilfunkanbieter sind hier sehr gut. Auf diesem Sektor ist die Ukraine sehr, sehr gut entwickelt."
Entwickelt hat Ciklum ein System, mit dem über eine Drohne die Qualität der Orangen auf großen Plantagen geprüft wird; dieses Gerät überwacht die Vitalwerte von Babys in Säuglingsstationen. Noch ein Prototyp ist dieses bargeldlose Sparschwein … es grunzt, wenn Eltern das Sparschwein mit der Kreditkarte aufladen:
Trotzdem hebt die Wirtschaft nicht so richtig ab. … Nicht nur Kleingeld, sondern Unsummen gehen der Ukraine verloren, weil sie ihr technisches Potential nicht richtig nutzt. Mrija ist das größte Transportflugzeug der Welt, doch der Traum von einer starken Luftfahrtindustrie blieb bisher ein Traum.
Besser dürfte die Perspektive der Raketenbauer sein. Die internationale Zusammenarbeit nimmt bei der zivilen Nutzung von Raketen und Satelliten wieder zu; diese Kooperation für diese Schlüsselindustrie lebenswichtig, weil die Ukraine nicht genug Geld hat, um selbst stark im Weltraum präsent zu sein. Insgesamt ist eine wirtschaftliche Aufholjagd aber nicht in Sicht:
Oleg Ustenko
„Selbst wenn die ukrainische Wirtschaft heuer um drei Prozent wächst, ist das nicht genug, um zum Niveau des Jahres 2013, also zum Vorkriegsniveau zurückzukehren. Noch schlimmer ist ein regionaler Vergleich. Die rumänische Wirtschaft wuchs im Vorjahr um sieben Prozent, die Wirtschaft Polens verdoppelte sich in den vergangenen 20 Jahren, die ukrainische wuchs um nur 20 Prozent.“
Doch es gibt auch politische Lichtblicke in Kiew; einer ist Uljana Suprun; die Amerikanerin ukrainischer Abstammung ist seit 2016 amtierende Gesundheitsministerin. Sie führt uns durch ein medizinisches Vorzeigeprojekt, denn viele Spitäler in der Ukraine sehen noch ganz anders aus. Uljana Suprun führte die freie Wahl des Hausarztes ein; zentrales Anliegen sind Prävention und bessere Volksgesundheit, weil die Lebenserwartung der Ukrainer acht Jahre niedriger ist als in der EU.
Suprun
„Dieser Computertomograph lag fünf Jahre in Schachteln verpackt im Kreis Vinnitza, weil ihn jemand gestohlen hat und verkaufen wollte. Polizei und Anti-Korruptionsbehörde mussten das Gerät in das Krankenhaus zurückbringen. Bereits dafür lohnt es sich, dass ich diese Verantwortung übernommen habe, damit unsere Kinder behandelt werden können.“
Anders als hier ist in vielen Spitälern die Infrastruktur katastrophal; mehr als 80 Prozent des Budgets für Spitäler sind Personalkosten. Ein Korruptionssumpf war die Beschaffung von Medikamenten; 40 Prozent der Mittel flossen in dunkle Kanäle, während etwa Krebspatienten Medikamente selbst bezahlen mussten. Nun führen internationale Organisationen die Beschaffung durch:
Suprun
„Die Pharma-Mafia wollte das nicht. Daher waren diese drei Jahre sehr schwierig. Jedes Jahr kamen der Rechnungshof, die Generalstaatsanwalt, die Polizei, die Geheimpolizei zu uns; sie überprüften die Dokumente, um die Reform zu stoppen. Als 40 Prozent der Ausgaben gestohlen wurden, gab es keine Überprüfung. Doch nun konnten wir für krebskranke Kinder 100 Prozent der Medikamente sicherstellen."
Eine Mafia ganz anderer Art verursacht massive Schäden an der Umwelt in der Westukraine. Grund dafür ist der illegale Abbau von Bernstein. Er ist eine wichtige Einnahmequelle für viele Familien. Der Bernstein wird dann ins Ausland geschmuggelt. Eine Lizenz zu Abbau und Verarbeitung haben nur wenige Firmen. Die Ukraine hat eine der größten Vorkommen weltweit, doch eine brauchbare gesetzliche Regelung lässt seit Jahren auf sich warten. Polizeieinsätze gegen den illegalen Abbau wirken spektakulär; die Schürfer trifft vor allem die Beschlagnahme ihrer Wasserpumpen. Trotzdem sind derartige Aktionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein, weil sie das soziale Grundproblem nicht lösen. In den betroffenen Gemeinden gibt es nicht genügend Arbeitsplätze; manche gegen als Gastarbeiter ins Ausland, andere schürfen Bernstein, wobei wohl auch Behörden bestochen werden, um in Ruhe arbeiten zu können:
Alexander Wasiljew, Gemeinderat
"Früher, im Jahre 2014, glaubten viele an die Legalisierung. Doch dann sahen die Menschen, dass alles beim Alten bleibt und sich nichts ändert. Die Abgeordneten kamen, Gesetzesentwürfe wurden geschrieben, doch alles war für A und F."
Ein weiteres Umweltproblem ist das illegale Schlägern von Holz in größerem Stil, obwohl beim Holz der Kampf gegen die Korruption besser funktioniert als beim Bernstein.
Umweltschäden durch illegales Schlägern thematisiert auch der Kandidat für das Präsidentenamt, Wolodimir Selenskij, in einem seiner Wahlkampfspots. Selenskij spielt darin den Präsidenten, der einen korrupten Lokalpolitiker zum Aufforsten zwingt. Der 41-jährige ist Drehbuchautor und exzellenter Satiriker. In Umfragen liegt er auf Platz eins. Hinter seiner Kandidatur soll ein Oligarch stehen, der die Ukraine um Milliarden geprellt hat und derzeit im Ausland lebt. Selenskij bestreitet die Vorwürfe. Er ist für viele Wähler attraktiv, die die politische Klasse satt haben.
Zur Wahl treten an die 40 Kandidaten an; für die Kandidatur musste jeder Bewerber umgerechnet 80.000 Euro der zentralen Wahlkommission überweisen. Unterstützungserklärungen mussten nicht gesammelt werden.
Um Platz zwei kämpfen derzeit Petro Poroschenko, der amtierende Präsident, der sich als Garant einer kompromisslosen Westorientierung präsentiert, und Julia Timoschenko. Die einstige Ikone der orangenen Revolution verspricht einen neuen Kurs, Wohlstand und Rechtsstaat. Den Wahlkampf der beiden belasten massive Vorwürfe des geplanten Stimmenkaufs, die Timoschenko und Poroschenko zurückweisen. Für Poroschenko sollen Wahlkampfhelfer landauf-landab unterwegs sein, um Bürger ausfindig zu machen, die bereit sind, ihre Stimme zu verkaufen. Eine Gruppe seiner Wahlkampfhelfer trafen wir zufällig in einem kleinen Ort. Meine Fragen stießen auf taube Ohren. Werbematerial verteilten sie nicht. Das Verhalten war höchst seltsam, ist aber natürlich kein Beweis.
Die Residenz des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch ist seit fünf Jahren eine Touristenattraktion. Janukowitsch selbst ist Geschichte, nicht aber die Oligarchen, die im Gegensatz zu Janukowitsch ihre Residenzen weiterhin bewohnen. Um es mit Goethes Faust zu sagen: „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“