Lage in der Frontstadt Gorlowka
In der Ostukraine haben die Verletzungen der Feuerpause in den vergangenen zwei Monaten wieder deutlich zugenommen. So fielen allein im Juni 14 ukrainische Soldaten, das ist die höchste Opferzahl seit sechs Monaten. Deutlich zugenommen hat im Mai der Beschuss von Städten und Dörfern auf beiden Seiten der Frontlinie. Auf der Seite der prorussischen Rebellen besonders betroffen war die Stadt Gorlowka, 30 Kilometer nordöstlich der Rebellenhochburg Donezk. Doch auch in Gorlowka sind die Bewohner bemüht, ein Leben zu führen, dass nicht nur durch den Krieg geprägt ist, der schon mehr als vier Jahre dauert. Gorlowka besucht hat jüngst unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz, hier sein Bericht:
Gorlowka ist die viertgrößte Stadt in der Ostukraine, die von prorussischen Rebellen kontrolliert wird. Vor dem Krieg lebten hier 280.000 Einwohner, jetzt sind es 235.000. Die Bevölkerungszahl entspricht somit in etwa der steirischen Landeshauptstadt Graz. Von der 500 Kilometer langen Frontlinie entfallen fast 50 Kilometer auf Gorlowka, wobei die Front oft unmittelbar an der Stadtgrenze verläuft. Am Höhepunkt der Kämpfe in den Jahren 2014 und 2015 lag auch das Stadtzentrum unter Feuer. Nun werden vor allem Außenbezirke beschossen; seit Kriegsbeginn sei ein Fünftel des Hausbestandes beschädigt worden, erläutert der amtierende Bürgermeister von Gorlowka, Iwan Prihodko:
"Zwischen 12- und 24. Mai wurden durch ukrainischen Beschuss 123 Häuser beschädigt; sechs Personen wurden getötet, 11 verletzt. Bis dahin hatten wir den letzten Toten im Oktober 2017 in der Siedlung Sajzevo unmittelbar an der Frontlinie. Dort leben noch sechs Personen, die sich nicht evakuieren lassen wollen. Sie leben nur etwa 200 bis 300 Meter von den Stellungen der ukrainischen Armee entfernt. In diesem Bereich erfolgt der Beschuss praktisch täglich mit kleinkalibrigen Waffen. Die Kinder haben wir alle von der Frontlinie evakuiert. Insgesamt leben 72 Kinder in Sajzevo, die wir jeden Tag in die Schule führen.“
Und wie ist die soziale und humanitäre Lage der Stadt? Dazu sagt Iwan Prihodko:
"Das Wichtigste ist, den Menschen Arbeit zu geben; daher versuchen wir, die Produktion anzukurbeln. Humanitäre Hilfe ist eine erzwungene Maßnahme, die die Menschen schwächt, weil sie dann nicht mehr arbeiten wollen. Was wir aber sonst am dringendsten brauchen, das sind Medikamente, weil sie sehr teuer sind. Hinzu kommen medizinische Geräte, weil gewisse medizinische Eingriffe wegen der ukrainischen Blockade nicht durchführbar sind."
Unter Krieg und ukrainischer Blockade leidet auch die Wirtschaft. Im Frieden produzierte die Bäckerei rund um die Uhr, jetzt nur mit einer Schicht und 13 Mitarbeitern. Der wichtigste Betrieb der Stadt ist der Chemie-Konzern Styrol; aus Angst vor nicht kalkulierbaren Folgen für Mensch und Umwelt, blieb die Fabrik auch am Höhepunkt des Krieges vom Beschuss verschont. Styrol hat Österreich-Bezug. Die Chemiefabrik gehört dem Oligarchen Dmitri Firtasch, der erzwungenermaßen in Österreich lebt, weil das Auslieferungsverfahren, das die USA angestrengt haben, noch nicht abgeschlossen ist. Nach der von der Ukraine verhängten Wirtschaftsblockade verstaatlichten de facto die prorussischen Rebellen auch Firtaschs Betrieb Styrol; zur Lage des Betriebes sagt der amtierende Bürgermeister von Gorlowka, Iwan Prihodko:
"Bis zum Krieg arbeiteten in Styrol 4.500 Mitarbeiter, darunter Spitzenchemiker. Bei der Übernahme der Verwaltung durch den Staat im März 2017 arbeiteten dort nicht mehr als 200 Personen; jetzt sind es wieder bis zu 1.500. Geplant ist, die Produktion von Kunstdünger wieder aufzunehmen, wann genau, weiß ich nicht. Durch die Wirtschaftsblockade der Ukraine gibt es Probleme mit der Zulieferung von Rohstoffen, denn für die Herstellung von Kunstdünger braucht man Ammoniak."
Trotz Krise und Krieg sind Stadt und Bewohner in Gorlowka bestrebt, auch ein normales Leben zu führen. Ende Juni fand ein Straßenfest zum internationalen Tag der Jugend statt. Es sorgte für Ablenkung in einer Zeit, die von Gefahr und Ungewissheit geprägt ist, weil ein Ende des Krieges in der Ostukraine nicht in Sicht ist.