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Überleben an der Frontlinie

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Berichte Ukraine

Mehr als 10.000 Tote und 1,8 Millionen Binnenvertriebene allein auf dem Territorium der Ukraine, das sind nur zwei Zahlen einer Bilanz des Krieges in der Ostukraine, der nun schon mehr als vier Jahre dauert, und ein Ende ist nicht in Sicht. Trotz aller Schrecken hat die Bevölkerung insbesondere der Ostukraine auf beiden Seiten der Frontlinie auch einen oft bewundernswerten Überlebenswillen demonstriert; dabei machen Eigeninitiative und internationale Hilfe vielfach die Schwächen staatlichen Institutionen weg, die sich im Krieg natürlich noch drastischer bemerkbar machen als im Frieden. Unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz ist derzeit in der Ostukraine und auf beiden Seiten der Frontlinie unterwegs. Er hat Beispiele menschlichen Überlebenswillens gefunden, die trotz aller fehlenden Friedenschancen Anlass zur Hoffnung geben; hier sein Bericht:

Das Dorf Novagrihorivka liegt 100 Kilometer nordöstlich der Hafenstadt Mariupol, aber nur etwa einen Kilometer von der Frontlinie entfernt. Die Hauptstraße ist für Zivilisten gesperrt; erreichbar ist das Dorf nur über einen Umweg; er führt an alten ukrainischen Stellungen vorbei; für die Gefallenen haben die Bewohner ein schlichtes Holzkreuz aufgestellt. Der letzte Kilometer des Umwegs ist nur eine erdige Straße; im Sommer ist das kein Problem, nach starkem Regen und im Winter aber schon. Diesen Kilometer müssen die wenigen Schulkinder gehen, um den Bus zu erreichen, der auf einer asphaltierten Straße wartet. Die Schule liegt im Nachbarort, acht Kilometer entfernt. Auf mich warten am Dorfrand sieben Bewohnerinnen. Stolz zeigen sie mir die Behelfsbrücke über den Bach, die ihre Männer aus zwei jeweils drei Meter langen Betonplatten gebaut haben. Und wie sieht es sonst mit der Infrastruktur aus?

Lusija

„Hier bei uns gibt es weder ein Geschäft, noch eine Apotheke oder Arbeit. Wir haben einen Postler, der aber nur halbtags arbeitet“, erzählt Lusija.

Der Postler bringt vor allem die Pensionen. Und wie wirkt sich der Krieg auf euer Leben und eure Arbeit aus, frage ich; Valentina (1) antwortet:

Valentina1

„Bis zum Krieg hatten wir Arbeit; ich habe auf dem Markt mein Gemüse verkauft; wir waren eigenständig. 15 Hektar habe ich mit meinem Mann bestellt. Doch mein Land bliebt auf der anderen Seite der Front.“

Trotzdem lebt das Dorf von der Landwirtschaft. Jedes Haus hat seinen Garten und seine Felder; angebaut werden Kartoffel, Tomaten, Melonen, Zucchini, Pfefferoni und auch Mais; sogar eine künstliche Bewässerung haben die Männer selbst gebaut. Hinzu kommen, Hühner, Kühe und Truthähne, die eine der internationalen Hilfsorganisationen gebracht hat, die dem Dorf auch mit Baumaterialen geholfen haben, um die Kriegsschäden zu beseitigen. Verkauft wird aber nur die Milch; warum erklärt einer der Männer:

Mann:

„Der Verkauf von Gemüse rechnet sich nicht; das Benzin ist sehr teuer und wir müssten weit fahren. Hin und zurück kostet das Benzin bereits mehr als wir einnehmen würden. Daher ist das jetzt sinnlos.“

Und Valentina ergänzt:

Valentina (1):

„Jetzt fehlt der Absatzmarkt. Vor dem Krieg sind wir bis nach Donezk und andere Städte gefahren. Donezk hatte eine Million Einwohner; die jetzt nächstgrößere Stadt 23.000. Da zahlt es sich nicht aus, dorthin zu fahren.“

68 Einwohner zählt das Dorf; die älteste Bewohnerin ist 90, die jüngste zweieinhalb Jahre. Das kleine Mädchen Alenka wurde im Februar 2016 in einer Zeit starken Artilleriebeschusses geboren. Jetzt haben die Gefechte zwar nachgelassen, doch die Oma schränkt ein:

Großmutter

„Ruhe gibt es nicht; am Tag ja, doch in der Nacht hört man, dass geschossen wird; und die Mama weint und die Enkelin auch.“

Trotz des Krieges und aller damit verbundenen Probleme ist der Selbstbehauptungswille der Dorfgemeinschaft enorm stark und bewundernswert. Sogar ein kleines Kulturhaus haben die Bewohner gebaut, als Treffpunkt für den Abend. Sieht man von der medizinischen Versorgung ab, dürfte es den Bewohnern von Nova Grihoriwna besser gehen als einer armen Pensionistin in einer ukrainischen Stadt. Doch wenn der Krieg in der Ostukraine noch lange dauert, wird auch dieser Ort keine wirkliche Perspektive haben, weil auch die wenigen Jungen irgendwann abwandern werden.

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