× Logo Mobil

Der bürokratische Spießroutenlauf der Binnenflüchtlinge

Radio
MiJ
Berichte Ukraine

Er ist medial schon fast vergessen, der seit mehr als vier Jahren tobende Krieg in der Ostukraine. Doch für die Menschen, die auf beiden Seiten der 500 Kilometer langen Frontlinie leben, bringt der Krieg nicht nur weiter viele Gefahren, sondern auch große soziale und bürokratische Probleme mit sich. Etwa 1,8 Millionen Binnenvertrieben und Flüchtlinge leben auf Ukrainisch kontrolliertem Territorium; bis zu 600.000 dürfte Probleme mit Auszahlungen von Pensionen und Sozialleistungen haben. In den prorussischen Rebellengebieten wiederum dürften noch etwa 2,5 bis 3 Millionen leben; der Krieg hat Familien auseinandergerissen und zerstört; die Rechtsfolgen des Krieges zu mindern bemühen sich nicht Regierungsorganisationen in der Hafenstadt Mariupol, die finanziell vom UNDP, der Entwicklungsorganisation der UNO, unterstützt werden. Mit ihnen hat in Mariupol unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz gesprochen; hier sein Bericht:

Im Juli 2014 verließ der Fotoreporter Sergej Waganow das von prorussischen Rebellen kontrollierte Donezk und zog in die 120 Kilometer entfernte Hafenstadt Mariupol, wo seine Mutter eine Wohnung hatte. Der nunmehr 59-jährige wurde rechtlich zum Binnenflüchtling. Waganow bezog bereits vor dem Krieg eine Invalidenrente von 200 Euro; ihre Auszahlung wurde bis 2016 zweimal eingestellt, ohne Vorwarnung und ohne Angabe von Gründen. Sergej Waganow verzichtete noch 2016 auf den Status eines Binnenflüchtlings, registrierte sich als Bürger von Mariupol und bezog bis Juli 2017 seine Invalidenrente; was dann geschah, schildert Sergej Waganow so:

"Im August 2017 erhielt ich wiederum keine Pension; beim Pensionsfonds sagte man, ich müsste wieder den Status eines Binnenvertriebenen annehmen, damit die Pension wieder ausbezahlt wird. Die zweite Möglichkeit wäre, dass ich vom Sozialamt eine Bestätigung bekomme, dass es dieses Amt ablehnt, mir zu bestätigen, dass ich ein Binnenvertriebener bin. Eine derartige Bestätigung ist gesetzlich nicht möglich; ich habe das alles als Sadismus empfunden.“

Waganow wandte sich an die Rechtshilfe leistende „Frauenunion von Mariupol“. Nach neun Monaten wurde die Pension wieder ausbezahlt. Die Zeit dazwischen überstand Waganow durch Arbeiten als Fotoreporter und mit Hilfe von Freunden. Die Frauenunion von Mariupol hat seit 2015 in mehr als 22.500 Fällen Rechtshilfe für Binnenvertriebene geleistet; das größte Problem seien Pensionen, betont die Chefjuristin der Organisation Marina Pugatschowa:

„Pensionen werden nicht ausbezahlt oder wenn schon, dann nur unter sehr großen Problemen. Grund dafür ist die ständige Änderung der Spielregeln; ständig gibt es neue Erlässe mit neuen Bedingungen, die ein Mensch de facto nicht erfüllen kann. Dazu zählen Probleme mit der Bank, die Pensionen auszahlt, sowie Personenkontrollen am Ort, an dem der Pensionist gemeldet ist. Diese Kontrollen erfolgen ohne Vorankündigung, doch auch ein alter Mensch kann Termine haben und daher nicht zu Hause sein."

Zu den weiteren gravierenden Problemen zählen Fragen des Familienrechts; das betrifft die Zahlung von Alimenten, wenn der Mann etwa auf prorussischem Rebellengebiet blieb, weil über die Frontlinie hinweg weder Bank- noch Postverbindungen existieren. Besondere Probleme können auftauchen, wenn sich ein Ehepartner scheiden lassen will, der andere aber auf prorussischem Rebellengebiet lebt oder verzogen ist. Dazu sagt der Jurist der „Jugendunion von Mariupol, Alexej Kalinovic, der ebenfalls Rechtsberatung leistet:

"Die Frau ist hier, und hat bereits ein neues Leben auf dem von Kiew kontrolliertem Gebiet aufgebaut, doch formell ist sie noch in einer Ehe mit einem Mann, der möglicherweise schon in Russland lebt und arbeitet. Wenn diese Frau nun von ihrem neuen Partner ein Kind bekommt, dann wird automatisch der offizielle Mann als Vater eingetragen. Daher muss man die Scheidung durchführen, damit die Frau wieder heiraten oder der biologische Vater auch der gesetzliche Vater werden kann."

Facebook Facebook