Die Krise der Ukraine und die Arbeitsmigration
Abstimmung mit den Füßen nannte man die Massenflucht aus Ostdeutschland, die vor 30 Jahren zum Zusammenbruch der DDR und zum Fall der Berliner Mauer führte. Eine derartige Absetzbewegung gibt es auch aus der krisengeschüttelten Ukraine. Geschätzte fünf Millionen Ukrainer sollen im Ausland arbeiten, vor allem in Polen, Russland und Italien. Das Streben nach höheren Löhnen im Ausland ist kaum verwunderlich; sind doch mit einem Mindestlohn von etwa 100 Euro und einem offiziellen Durchschnittslohn von weniger als 300 Euro die Löhne in der Ukraine die zweitniedrigsten in Europa. Erleichtert wird die Arbeitsmigration dadurch, dass das Arbeitsrecht in der Ukraine oft nur totes Recht ist und eine Visa-Liberalisierung mit der EU besteht. Die Arbeitsmigration zeigt bereits Folgen für die Ukraine, kann sich aber auch auf die Arbeitsmärkte in einigen EU-Staaten auswirken, berichtet aus Kiew unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz:
Die Einwohnerzahl der Ukraine ist derzeit auch wegen des Krieges in der Ostukraine, wegen der mehr als einer Million Binnenvertriebenen und der Arbeitsmigration nur schwer zu schätzen. Ukrainische Experten rechnen mit etwa 40 Millionen Einwohnern, ein Rückgang von 12 Millionen Personen in den 27 Jahren der Unabhängigkeit. Von diesen 40 Millionen sind neun Millionen Pensionisten und 10 Millionen zahlen Sozialabgaben. Sechs Millionen arbeite schwarz, und weitere fünf Millionen dürften im Ausland arbeiten. Nach Angaben des Statistischen Zentralamtes in Kiew gingen zwischen 2015 und 2017 mindestens 1,3 Millionen Einwohner als Arbeitsmigranten ins Ausland. Diese Zahlen dürften eindeutig zu niedrig sein; nach Angaben aus Warschau stellte das polnische Arbeitsministerium allein im Vorjahr 1,8 Millionen Bescheinigungen für eine geplante Beschäftigung eines Ausländers aus; mehr als 90 Prozent betrafen Ukrainer. Probleme, Arbeitskräfte zu finden, haben Investoren dagegen bereits in der Westukraine; die Wirtschaft in Polen blüht, und das wirkt wie ein Magnet auf viele Ukrainer. Was das für die Entwicklung der Ukraine bedeutet, erläutert in Kiew der Arbeitsmarktexperte Vitali Dudin so:
"Die Zahl der vorhandenen Arbeitskräfte passt ideal zur wirtschaftlichen Stagnation. Irgendeine Entwicklung ist bei dieser Menge an Arbeitskräften nicht möglich. Die Ukraine wird weiterbestehen, und es werden auch Beiträge in die Pensionsfonds eingezahlt werden, doch die Krise wird zunehmen. Unsere Kinder werden voraussichtlich schlechter leben als die heutige Generation, weil sie in weit geringerem Umfang Zugang zu Sozialleistungen haben werden, weil zu wenige Beiträge eingezahlt werden. Ich glaube auch nicht, dass die Privatisierung unsere Probleme lösen wird. Denn potentielle ausländische Investoren werden wohl Arbeitsplätze abbauen. Die Ukraine kann existieren, entwickelt sich aber nicht."
Anderseits dämpft die Arbeitsmigration die sozialen Spannungen im Land und sorgt auch für einen Devisenzufluss. Nach Angaben der Nationalbank überwiesen Auslandsukrainer im Vorjahr knapp 2,4 Milliarden US-Dollar in die Ukraine, das ist mehr als österreichische Firmen bisher insgesamt in diesem Land investiert haben. Sicher ist jedenfalls, dass die ukrainische Arbeitsmigration ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, und zwar nicht nur wegen Polen; denn auch in der Tschechischen Republik wächst die Nachfrage nach ukrainischen Arbeitskräften, und auch dort können sich Ukrainer sprachlich leicht integrieren.