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Reportage aus den Rebellengebieten der Ostukraine

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Europajournal
Berichte Ukraine
Die Ostukraine steht heuer bereits vor ihrer zweiten Kriegsweihnacht. Zwar gibt es seit September nur mehr gelegentlich Artillerieduelle und Scharmützel; doch während die Waffen weitgehend schweigen, verlaufen in der weißrussischen Hauptstadt Minsk die Gespräche über eine dauerhafte Lösung des Konflikts und über eine Reintegration der prorussischen Rebellengebiete von Donezk und Lugansk nur schleppend. Der entscheidende Punkt der Friedensregelung ist die Durchführung von Lokalwahlen in den Rebellen-Gebieten. Dabei geht es auch um die Frage, wer wählen und wer gewählt werden darf. Während die Diplomaten verhandeln, werden vor Ort in der Ostukraine von beiden Konfliktparteien Fakten geschaffen; Kiew baut die Kontrollposten an der Waffenstillstandslinie immer mehr zu Grenzübergängen aus, rechnet also offensichtlich selbst nicht mit einer raschen Lösung; anderseits bauen Donezk und Lugansk schrittweise staatsähnliche Strukturen und Institutionen auf, wobei die Wirtschaft des Gebiete immer stärker russisch geprägt ist. Unsere Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz war jüngst wieder mehrere Tage im Raum Donezk unterwegs; er hat den folgenden Bericht über eine Region zwischen Niedergang, Stagnation, Isolation und Wiederaufbau gestaltet, der vor allem vom Lebenswillen der verbliebenen Bevölkerung getragen wird:

Je mehr sich der heiße Krieg in der Ostukraine in einen eingefrorenen Konflikt wandelt, je länger in Minsk ohne Durchbruch über den Frieden verhandelt wird, desto mehr verwandelten sich die ukrainischen Straßensperren in grenzähnliche Gebilde. Die Wartezeiten an den drei Übertrittspunkten im Kreis Donezk sind enorm. Grund dafür sind zu wenige Computer in den Containern der ukrainischen Grenzpolizei und enge Straßen. Am nördlichen Übertrittspunkt in der Nähe der Stadt Artjemovsk sitzt auch Andrej mit Frau und kleinem Kind wartend im Auto. Hoffnung auf rasches Weiterkommen hat Andrei nicht:

„Wir sind erst vor 30 Minuten gekommen; warten müssen wir wohl bis zu sechs Stunden.“

Und was ist der Grund für die Reise?

„Wir wollen unsere Eltern besuchen, ums Einkaufen geht es nicht, die Preise sind ziemlich gleich.“


Andrej ist kein Einzelschicksal; der Krieg hat Familien auseinandergerissen und Menschen von Freunden und Gärten getrennt. Andrej stammt aus der Stadt Donezk, die etwa 70 Kilometer südlich von Artemevsk liegt. Auf dem Weg in die Hauptstadt der sogenannten Volksrepublik von Donezk, der DNR, sind noch einige Kontrollposten der prorussischen Rebellen zu passieren. Vor dem Krieg zählte die Industriestadt knapp eine Million Einwohner. Nun sind es wohl einige Hunderttausend weniger, doch genaue Statistiken fehlen. In der Nacht wirkt das Zentrum auch wegen der Ausgangssperre rasch wie ausgestorben; doch einige Lokale haben wieder geöffnet. Dazu zählt auch eine Kegelbahn, die am Wochenende gut besucht ist. Die Kegelbahn liegt im obersten Stock eines Einkaufszentrums; abgesehen von einem Supermarkt sind alle Geschäfte geschlossen und geräumt, denn vor allem wohlhabende Bürger und die Mittelschicht Donezk verlassen haben. In der DNR gilt im Winter wieder die Moskauer Zeit, das heißt gegenüber Kiew gehen die Uhren um eine Stunde, gegenüber Wien um zwei Stunden vor. Dass die Uhren hier nun anders gehen, zeigen auch die Märkte von Donezk. Die Ukraine hat eine Finanz- und Wirtschaftsblockade über die Rebellengebiete verhängt. Das hat die Russifizierung der Wirtschaft massiv beschleunigt. Das zeigt auch der Stand von Alexandra, die Schuhbänder und Nähzeug feilbietet:

„Vor dem Krieg habe ich die Waren aus der Stadt Charkiw hergeführt; jetzt von dort, wo es möglich ist, hauptsächlich aus Russland. Restbestände habe ich auch noch aus Charkiw.“


Alle Preise sind nur mehr in russischen Rubel angeschrieben; dazu sagt die Marktfrau Lena:

„Bezahlt wird praktisch nur in Rubel; ukrainische Griwna sind gar nicht mehr im Umlauf.“

Lena verkauft Frischfleisch; ein Kilo Rindfleisch kostet umgerechnet fünf Euro; etwas billiger ist Schweinefleisch. Und woher stammt das Fleisch? Dazu sagt Lena:

„Es wird aus der Ukraine, aus der Umgebung, eingeführt.“


Durch Schmuggel wird also die Blockade umgangen; trotzdem sind die Verbindungen zwischen den Rebellengebieten und dem Rest der Ukraine stark reduziert; das gemeinsame Stromnetz besteht noch, ebenso Kohletransporte für ukrainische Kraftwerke. Auch die ukrainischen Mobilfunkanbieter arbeiten noch; Gegen die totale Isolation seien ukrainische Wirtschaft und Geheimdienste, die die Kabel nützen, um Telefon und Internet abzuhören, sagt Viktor Jazenko, der Minister für Telekommunikation der DNR. Er ist 30 Jahre alt, stammt aus dem Nachbarkreis Cherson und kam im Vorjahr als Kriegsfreiwilliger nach Donezk. Dort leitet er jetzt auch den Aufbau eines eigenen Mobilfunk-Anbieters mit Namen Phönix; das star-up-Paket kostet umgerechnet 2 Euro und 50 Cent, Telefonate nach Russland weniger als acht Cent; doch der Phönix aus der Asche habe noch beträchtliche Anlaufschwierigkeiten, erläutert Viktor Jazenko:

„Derzeit arbeitet Phönix normal nur mit Russland; doch auch von dort kann man nur über einen Verteilen angerufen werden; der ist automatisiert, doch unsere Abonnenten haben keine bestimmten Nummern, mit denen man offiziell zwischen Netzen hin und her telefonieren kann. Mit dem neuen Jahr werden wir auch eine Verbindung in die Welt haben; doch alle Knotenpunkte tragen jetzt den Charakter von Piraterie; sprich: internationale Normen werden verletzt, wenn wir Knotenpunkte mit anderen Anbietern im Ausland nutzen. Das machen wir nur, damit unsere Bürger weltweit telefonieren können, sollten die ukrainischen Hauptakteure auf unserem Markt abgeschaltet werden.“

Kaufen kann man die Phönix-SIM-Karten auch im Hauptpostamt im Stadtzentrum. Die Post zählte zu den ersten Institutionen der sogenannten Volksrepublik von Donezk; ihre Führung arbeitet konsequent und natürlich mit russischer Hilfe am Aufbau staatlicher Institutionen, vom Bankwesen über die Polizei, die bereits wieder Strafmandate verhängt bis zu Post, die bereits acht Briefmarken herausgegeben hat. In 200 Filialen beschäftigt die Post etwa 1.500 Mitarbeiter; Paket- und Briefverkehr sind auf die Rebellengebiete beschränkt und daher

gering. Die zentrale Bedeutung der Post beschreibt ihr stellvertretender Generaldirektor, Evgenij Kovnatzkij so:

„Die Hauptaufgabe der Post besteht in der Auszahlung von Pensionen und Sozialleistungen. Wir bedienen mehr als 200.000 Pensionisten und einige zehntausende Personen, denen wir Sozialleistungen ausbezahlen.“

Etwa eine Milliarde Rubel insgesamt, umgerechnet etwa 70 Euro im Durchschnitt pro Pensionist, zahlen Geldbriefträger monatlich aus; zum Vergleich: ein Liter Milch kostet fast 50 Euro-Cent, ein Kilo Brot und Kartoffel je knapp 20 Cent und ein Kilo Tomaten ist ab 1 Euro 50 zu haben. Die Post versorgt etwa die Hälfte der Rentner auf dem Gebiet der DNR mit Pensionen, die andere Hälfte bekommt ihr Geld in den Filialen der DNR-Nationalbank. Die Bevölkerung auf dem Territorium der sogenannten Volksrepublik wird auf 1,5 bis 2,5 Millionen Einwohner geschätzt; je nach dem ist somit jeder dritte oder jeder fünfte Bürger ein Pensionist. Nicht nur ihre soziale Lage, sondern auch die von Familien mit Kindern ist sehr schwierig. Eine Anlaufstelle für Sie ist die Donbas-Arena, die verwaiste Heimstädte des Fußballklubs Schachtjer Donezk, der nun in Kiew trainiert. Eigentümer des Klubs ist der einst reichste Mann der Ukraine, der Oligarch Rinat Achmetow; er hat bereits vor 15 Monaten einen Fonds gegründet, der nun pro Monat etwa 500.000 Hilfsbedürftige in den Kreisen von Donezk und Lugansk mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln versorgt; zentrale Anlaufstelle ist das Fußballstadion, in dem 200 Freiwillige pro Tag Lebensmittelpakete schnüren; das größte Problem sei derzeit die Versorgung mit Medikamenten, betont die Pressesprecherin des Achmetow-Fonds, Olga Zeleskaja:

„Medikamente fehlen in den Apotheken und außerdem fehlt vielen das Geld, Medikamente zu kaufen. Daher helfen wir Schwerkranken und Kindern, die unter Diabetes oder Krebs leiden. Hinzu kommen Erkrankungen der Herzkranzgefäße. Insgesamt haben wir hier mehr als 6.500 Menschen geholfen. In den vergangenen Monaten hat der Hilfsfond Achmetow bereits sich mit sechs Briefen vor allem an das ukrainische Gesundheitsministerium gewandt, damit wir Medikamente in die Gebiete einführen können, die nicht von der Ukraine kontrolliert werden. Wir werden auch einen siebenten und achten Brief schreiben und hoffen, dass wir das Herz der Beamten erweichen können.“  

Das Fußballstadion von Donezk weckt gemischte Gefühle; einerseits ist seine verblassende Pracht ein Symbol für den kriegsbedingten Niedergang einer Region; anderseits symbolisiert es nun Hilfsbereitschaft und Überlebenswillen einer Bevölkerung, die sich nolens volens in einer Lage zurechtfinden muss, die keine rasche politische Lösung oder Besserung verheißt. Darum bemüht sich natürlich auch die politische Führung der prorussischen Rebellen, die bestrebt sind, eine staatliche Verwaltung aufzubauen. Dazu zählen die Registrierung der Betriebe und die Bildung von Arbeitsämtern, die seit Jänner in den 16 größeren Städten der sogenannten Volksrepublik tätig sind. Sie haben bisher 47.300 Arbeitssuchende registriert; davon sind mehr als 20.000 jünger als 35 Jahre. Nur knapp ein Drittel der Arbeitssuchenden eine mittlere und höhere Ausbildung. Warum das so ist, erläutert Nadeschda Kiseljowa, die Leiterin des Arbeitsamtes der Stadt Charzisk, so:

"Das Problem besteht darin, dass viele Spezialisten das Territorium unserer Republik verlassen haben. Das betrifft vor allem die Bereiche Bildung und Gesundheit. Denn vom ersten Tag unserer Tätigkeit an haben sich an uns viel medizinische Einrichtungen mit einer enorm langen Liste gewandt; gesucht werden Ärzte, Krankenschwestern und jüngeres medizinisches Personal. Leider sind auch viele Lehrer, Erzieher und Psychologen und jene abgewandert, die im Sozialbereich gearbeitet haben; und wir bemühen uns, diesen Bedarf zu decken."

Charzisk zählte vor dem Krieg 60.000 Einwohner, die Gemeinde insgesamt knapp 100.000. Wie viele es jetzt sind ist unklar; beim Arbeitsamt haben sich bisher jedenfalls 2000 Firmen und Organisationen registriert. Pro Monate gibt es etwa 100 offene Stellen, vom Schweißer über den Koch bis zum Psychologen. 2900 Personen wurden im Arbeitsamt seit Jänner registriert, die Hälfte sind Frauen. Vermittelt wurden mehr als 600 feste Anstellungen. Vermittelt werden aber auch auf zunächst einen Monat befristete Arbeitsplätze; der dafür bezahlte Mindestlohn von umgerechnet 35 Euro kommt vom Arbeitsamt; Schulen und Parks haben befristete Arbeitskräfte ebenso gesäubert wie Kriegsschäden in Häusern beseitigt. Die Reaktion auf dieses Angebot sei schrittweise immer besser ausgefallen, sagt Nadeschda Kiseljova:

"Zunächst wusste viele Menschen nicht um diese Möglichkeit und Mißtrauen herrschte, ob das Gehalt zeitgerecht ausbezahlt wird. Doch die Priorität war ganz klar - Geld verdienen und zu etwas Nutze sein. Natürlich ist humanitäre Hilfe wichtig sein, doch Selbstverwirklichung ist ebenso wichtig. In unsere Mentalität liegt es, dass man gebraucht werden will. So konnten wir im August und September bereits jeweils etwa 900 befristete Arbeitsplätze besetzen und nachbesetzen, wenn jemand aufgehört hat. Denn da hatten die Menschen bereits verstanden, dass der Lohn zwar gering, ja minimal ist, doch dass er zeitgerecht ausbezahlt wird."

Die Stadt Charzisk hatte Glück und wurde vom Krieg nicht stark in Mitleidenschaft gezogen. Das gilt nicht für Stepanovka, 80 Kilometer östlich von Donezk. Der Ort liegt nur wenige Kilometer von der strategisch wichtigen Anhöhe Savur Mogila entfernt, die bereits im Zweiten Weltkrieg stark umkämpft war. Ukrainische Truppen wollten von dort aus im August des Vorjahres die Straße zwischen den Rebellen-Hochburgen Lugansk und Donezk unterbrechen, an der auch Charzisk liegt Die Offensive scheiterte dank russischer Hilfe für die Rebellen. In Stepanovka starben bei den Kämpfen 12 Zivilisten, 100 der 400 Häuser des Ortes wurden völlig zerstört. Die Bewohner haben praktisch alle Gärten und auch humanitäre Hilfe kam hierher. Mangelware ist Baumaterial wie Schieferplatten. Die resolute Ljuba fühlt sich bei der Zuteilung von der Gemeinde schlecht behandelt; sie führt uns in ihr Haus; im Hof steht der Traktor, der durch Granatsplitter beschädigt wurde, den aber ihr Mann selbst repariert hat. Groß sind noch die Kriegsschäden am Haus selbst; dazu sagt Ljuba:

„Aus Donezk kamen Leute der Organisation für die Erneuerung des Donbas. Sie legten einen Akt an. Wir haben einen Haufen an Dokumenten; man gibt uns nur Papiere, und wir warten und warten, doch Hilfe kommt keine.“

In der ebenfalls zerstörten Schule wurden zwar die Fenster erneuert, noch nicht aber das Innere des Gebäudes; daher werden die Kinder in einer behelfsmäßigen Schule unterrichtet, die Eltern und Lehrer selbst hergerichtet haben. Vor dem Krieg zählte Stepanovka 1100 Bewohner, nun sind es 800; doch die Zahl der Rückkehrer steigt; das spürt auch der Schuldirektor Wasilij Prosenok:

„Im vergangenen Schuljahr hatten wir 51 Schüler, jetzt sind es 103. Wir haben hier jetzt auch Kinder aus dem Nachbarort, wo die Schule zerstört ist. Wir haben jetzt doppelt so viele Schüler wie im Vorjahr. Wir bringen alle unter, aber eng ist es halt.“

Bei der Glastür im Eingang der Schule sitzen drei Frauen und basteln bereits an der Weihnachtsdekoration. Aus Papier schneiden sie Schneemänner und Weihnachtsglocken; sie wünschen sich friedliche Weihnachten, Frieden für die Zukunft und wieder ein etwas besseres Leben. Mögen ihre bescheidenen Wünsche in Erfüllung gehen, wenn schon die große Friedenslösung für eine Region und die Ukraine insgesamt nicht in Sicht ist.

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