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Integrale Fassung des Interviews mit Ministerpräsident Jazenjuk

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Berichte Ukraine
Gesamter Text des Interviews mit Arsenij Jazenjuk. Das Interview erfolgte für den ORF und fand am 12.12.2014 am Nachmittag im Regierungsgebäude in Kiew statt. Eine gekürzte Fassung erschien in der ZiB2 am 15.12.2014 um 22 Uhr Auf ORF2. Übersetzung aus dem Ukrainischen stammt von mir.

CW: „Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Führende ukrainische Wirtschaftsexperten hoffen, dass die Bevölkerung durch Reformen wenigstens binnen sechs Monaten ein Licht am Ende des Tunnels wird sehen können. Wie rasch ist eine erste wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine machbar?

AJ: "Ich würde das wirklich gerne in den kommenden sechs Monaten machen, doch es wird kaum gelingen, in dieser Zeit eine Stabilisierung zu erreichen. Das Grundproblem der ukrainischen Wirtschaft ist in erster Linie die russische militärische Aggression, durch die Russland die Krim annektiert und ein Teil der Kreise Donezk und Lugansk besetzt hat. Dadurch haben wir 20 Prozent der ukrainischen Wirtschaft verloren, und diese Verluste steigen weiter. Natürlich besteht der grundlegende Verlust in Menschenleben, die russische Terroristen ermorden. Um die Wirtschaft zu stabilisieren, ist es daher notwendig, ukrainisches Territorium von russischen Soldaten, Panzern und Terroristen zu befreien."

CW: Und wie steht es in dieser Kriegszeit um die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland? Die Probleme mit Gas- und Kohlelieferungen kehren regelmäßig wieder. Wie steht es um ukrainische Exporte nach Russland?

CW: "Das Handelsvolumen mit den Russen ist heuer um 50 Prozent zurückgegangen. Russland schließt seinen Markt speziell für uns, weil das ein Teil ist des Krieges gegen die Ukraine ist. Es gibt einen militärischen Teil, weil Russland seine Terroristen hierher geschickt hat; doch es gibt auch einen wirtschaftlichen Teil, indem es seinen Markt blockiert hat, obwohl es ein Freihandelsabkommen mit Russland gibt. Objektiv sind wir von Energieimporten abhängig, was auch für einen Teil der EU gilt; von dieser Abhängigkeit muss man sich befreien. Je konkurrenzfähiger ukrainische Produkte sein werden, auf desto mehr Märkten werden wir präsent sein; das gilt nicht nur für europäische, sondern auch für andere Märkte auf der Welt."

CW: Welche Maßnahmen hat Ihre Regierung bereits getroffen, und wie sieht die finanzielle Lage der Ukraine aus?

AJ: Was konkrete Maßnahmen betreffen, so haben wir im vergangenen Jahr eine Reihe von unpopulären und schwierigen Entscheidungen getroffen; das betrifft die Kürzung von Sozialausgaben, die Erhöhung von Steuern und Abgaben für die Bevölkerung. Aber objektiv reicht das natürlich nicht. Wir haben eine Finanzhilfe vom IWF und von der EU erhalten. Insgesamt haben wir neun Milliarden USD erhalten. Und Schulden bezahlt haben wir heuer 14 Milliarden USD. Das betrifft Schulden für Öl und Gas gegenüber unseren europäischen Partnern und gegenüber Russland. Somit befinden wir uns in einer schwierigen Lage; neben dem militärischen Konflikt ist die zweite Frage daher die Lösung der wirtschaftlichen Probleme durch ein Programm mit dem Internationalen Währungsfonds und durch eine reale Hilfe von Geldgeberländern. Es geht um eine große Geldgeberkonferenz, an der unter anderem die G7-Staaten, die Weltbank, andere Geber und die EU teilnehmen, die bereit sind, zur Stabilisierung der Wirtschaft beizutragen."

CW: Mit anderen Worten, die Ukraine wird auch im kommenden Jahr frisches Geld brauchen?

AJ: "Schauen wir uns doch Griechenland an; der gesamte Rettungsschirm betrug 235 Milliarden Euro im Rahmen von vier Jahren. Und bis jetzt davon zu sprechen, dass das gesamte Programm erfolgreich war, wäre zu früh; und das obwohl Griechenland keinen Krieg mit Russland hat. Jetzt werde ich nicht über konkrete Zeiten aber konkrete Schritte sprechen; erstens: Entspannung der Lage in der Ostukraine, und zweitens eine große Geberkonferenz und ein großes Paket an Finanzhilfe, das es möglich macht, das Jahr 2015 zu überleben und in Richtung Wirtschaftswachstum weiterzugehen. "Es ist sehr kompliziert, ein Land zu reformieren, in dem der Kurs der Währung um 100 Prozent gefallen ist, und in dem die Menschen aus Angst ihr Geld von den Banken abheben und in Fremdwährung umwechseln, wenn der Konsum sinkt, wenn Unternehmen zusperren. Das ist kompliziert, doch wir werden mit diesen Schwierigkeiten kämpfen, und die für das Land nötigen Gesetze beschließen."

CW: Die Ukraine war bereits vor dem Krieg wegen Korruption und Bürokratie nicht besonders attraktiv für ausländische Investoren? Welche konkreten Pläne haben Sie, um das jetzt zu ändern, und zwar trotz des Krieges?

AJ: "Wenn Sie nach Österreich zurückkehren, dann sprechen Sie doch einfach mit österreichischen Geschäftsleuten und fragen: "Sind Sie bereit in einem Land zu investieren, dass sich im Kriegszustand mit Russland befindet?" Ich möchten einen privaten Geschäftsmann sehen, der bereit ist, unter den aktuellen Bedingungen bereit ist, auch nur einen einzigen US-Dollar oder einen einzigen Euro zu riskieren; solange er nicht eine stabilere und sichere Situation vorfindet, werden keine privaten Investitionen kommen. Damit diese kommen, muss man erstens, die Sicherheit der Ukraine gewährleisten, und zweitens eine Reihe von Reformen durchführen, die auch in dieser Kriegszeit machbar sind. Dazu zählen die Deregulierung der Wirtschaft, die Änderung des Steuersystems, mit der wir uns derzeit befassen, der Kampf gegen die Korruption und das Schaffen eine Grundlage für weitere Investitionen. Doch jetzt wird ein privater Investor nicht kommen; das haben auch die vergangenen neun Monate bereits gezeigt. Alle haben erwartet, dass wir unsere Staatsanleihen dass hierher Investoren kommen und wir unsere Schatzscheine auf den Märkten verkaufen können, aber NEIN."

CW: „Die Schattenwirtschaft in der Ukraine ist enorm; Schätzungen gehen von mindestens 50 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung aus. Wie kann diese Schattenwirtschaft wirksam bekämpft werden?

AJ: „In der Ukraine sind die Sozialabgaben ziemlich hoch, und die Schattenwirtschaft macht einen großen Teil aus. Wir als Regierung schlagen daher in erster Line eine Senkung der Sozialabgaben auf die Löhne vor, um sie aus der Schattenwirtschaft herauszuführen. Dabei besteht eine Gefahr: denn dazu zagt der Internationale Währungsfonds, dass wir die Abgaben und Steuern senken können, und trotzdem keine Legalisierung der Löhne bekommen. Dann hätten wir zwar niedrigere Steuern, auf der anderen Seite aber ein Defizit im Pensionsfonds, und werden dann den Menschen keine Pensionen auszahlen können. Daher halten wir jetzt eine gewisse Balance. Die zweite Frage betrifft die Steuerdisziplin, und zwar auch in Bezug auf das Big Business, das über alle Maßen seine Monopolstellung missbraucht. Das Ziel der Regierung besteht darin, strenge Steuerregeln für das Big Business einzuführen, und Steuerschlupflöcher für große Firmen zu beseitigen."

CW: „Damit wollen Sie die Oligarchen in den Griff bekommen?

AJ: "Wissen Sie, wie jetzt die Ukraine bereits scherz: früher waren sie Oligarchen; jetzt sind sie schon Vertreter des Kleinunternehmertums; nach der Krise nennen wir sie nicht ein Mal mehr Oligarchen, weil ihre Aktiva an Wert verloren haben. Doch ich möchte noch ein Mal betonen, dass für alle dieselben Spielregeln gelten."

CW: „Wie haben sich die Wirtschaftsbeziehungen der Ukraine mit der EU seit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens entwickelt? Konnten dadurch Ausfälle mit Russland teilweise kompensiert werden?“

AJ: "Es gibt die sogenannten autonomen Präferenzen, durch die ein Teil des europäischen Marktes für die Ukraine geöffnet ist. Doch es gibt Quoten; und wir verstehen, dass die EU ihren Markt nicht völlig für ukrainische landwirtschaftliche Produkte öffnen wird, weil die EU selbst viele Probleme mit ihrem Agrarsektor hat. Doch wir sind unseren europäischen Partnern dankbar, dass sie ihren Markt teilweise geöffnet haben, und die Ukraine hat diese autonomen Präferenzen bereits ausgenützt; wir liefern eine Reihe von Produkten an die EU-Mitglieder. So ist auch unser Export um 12 Prozent in die EU-Länder gestiegen. Die EU-Mitgliedschaft, das ist eine ferne Perspektive. Sie besteht natürlich, aber sie wird davon abhängen, wie sich die Ereignisse in der Ukraine und in der EU weiterentwickeln. Der erste Schritt zur Mitgliedschaft ist die Erfüllung der Vereinbarung, die heuer unterzeichnet wurde. Ihre Nichtunterzeichnung löste ja die Revolution in der Ukraine aus. Das ist ein sehr schwieriger Weg, den man nicht leicht zurücklegen kann, den aber sehr viele Länder gegangen sind, wie etwa Polen. Auch die Ukraine wird diesen Weg gehen."

CW: „Wo sehen Sie die Ukraine in einem Jahr?“

AJ: "Ich weiß, was man für die Ukraine in einem gesamten Jahr tun muss. Wenn wir alles tun, was in unserer Macht steht, dann werden wir eine Ukraine sehen, die der EU viel näher sein wird, als sie es jetzt ist. Was private Investitionen betrifft: Sie kommen aus Österreich, daher kann ich Ihnen sagen, dass der größte private Investor in der ukrainischen Wirtschaft die Raiffeisenbank ist. Einst habe ich für diese Bank gearbeitet. Daher wünsche ich, dass die österreichische Wirtschaft, die die ukrainische Realität gut kennt, in die Ukraine kommt und hier investiert, und dazu werden wir alles tun."

CW: Wie entscheidend sind ausländische Investoren für die Modernisierung der Ukraine?

AJ: "Ohne ausländische Investoren ist das nicht möglich; denn für eine konkurrenzfähige Wirtschaft braucht man Geld, und zwar von der Privatwirtschaft wie in der Europäischen Union, die bereit ist, in der Ukraine zu investieren, um hier Arbeitsplätze zu schaffen, die konkurrenzfähig sind. Dazu braucht es hier normale Spielregeln. Doch damit private Investoren hierher kommen, müssen wir nun zu dem Gespräch zurückkehren, das wir vor 15 Minuten geführt haben."

CW: Welchen Weg sehen Sie, um den Krieg in der Ostukraine zu beenden?

AJ: "Die einzige Strategie, die es bisher gibt, ist die Vereinbarung von Minsk, eine andere gibt es nicht. Wir haben verschiede Gesprächsformate mit den Russen versucht, doch das einzige Dokument das es gibt, ist das aus Minsk. Russland muss diese Minsker Vereinbarung erfüllen, und auf diese Weise die Spannungen in diesen Gebieten vermindern, die sich befristet unter der Kontrolle russischer Terroristen befinden. Nur dadurch, dass Vladimir Putin beginnt, diese Vereinbarung zu erfüllen; dann wird sich sofort die Lage ändern. Wenn er sie nicht erfüllen wird, dann wird sich die Lage zu einem de facto Kriegszustand im Zentrum Europas, in Osteuropa steigern."

CW: Im Wahlkampf traten Sie dafür ein, an der ukrainisch-russischen Grenze eine Mauer zu bauen; wie steht es nun um diese Pläne?

AJ: "Das ist eine wichtige Frage, weil sie nicht nur die Ukraine, sondern auch die Europäische Union betrifft. Es geht darum, eine europäische Grenze zu bauen, damit die ukrainisch-russische Grenze kein Ort sein wird, für illegale Migranten, für Waffen-, Drogen- und für den Menschenhandel. All das ist unsere gemeinsame Aufgabe, und das ist de facto die Sicherheit des gesamten Europa. Eine sichere Grenze, das ist ein sicheres Europa; und das werden wir bauen. Wo? An der ukrainisch-russischen Grenze, denn Donezk und Lugansk sind und werden Teile der Ukraine bleiben. Es wird auch die Zeit kommen, dass die Krim zurückkehrt, nicht bald, doch sie wird zurückkehren."

CW: „Und eine Mauer wird es geben?“

AJ: „Eine Grenze wird es geben.“

CW: „Vielen Dank für das Gespräch.“

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