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Ukraine zwischen Krieg und Wahl

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Europajournal
Berichte Ukraine
In der Ukraine finden am Sonntag vorgezogene Parlamentswahlen statt. Gewählt werden insgesamt 450 Abgeordnete, die Hälfte davon auf Parteilisten, die andere Hälfte in Einer-Wahlkreisen. Für die Parteien gilt eine Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament. Zur Wahl antreten 29 Parteien und mehr als 3.500 Kandidaten in den Einer-Wahlkreisen, für die ein Mehrheitswahlrecht gilt. Mehr als 2300 internationale Beobachter werden die Wahlen überwachen, um Wahlbetrug so weit wie möglich einzuschränken. In den mehr als 22 Jahren ihrer Unabhängigkeit, sind das die ersten Wahlen, die in einem de facto Kriegszustand der Ukraine stattfinden. Prorussische Rebellen halten einen beträchtlichen Teil der Kreise Lugansk und Donezk besetzt, in denen ebenso wenig gewählt werden kann, wie auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim. Daher werden auch nicht alle der 450 Mandate besetzt werden können. Hinzu kommt der Sturz von Viktor Janukowitsch Ende Februar, der praktisch Auch zum Zerfall seiner „Partei der Regionen“ führte, die bei der Wahl vor mehr als zwei Jahren etwa sechs Millionen Stimmen gewann. Diese Veränderungen sowie Hunderttausende Binnenvertriebene wecken natürlich auch Zweifel an der Aussagekraft von Umfragen. Sie sagen jedenfalls voraus, dass der Wahlblock von Präsident Petro Poroschenko mit etwa 30 Prozent rechnen kann und klar stärkste Kraft werden wird. Poroschenko erzwang im August die Auflösung des Parlaments, weil er sich für seine Reformpolitik eine eigene Hausmacht im Parlament schaffen will. Den Wahlkampf einer Nation im Kriegszustand hat in der Ukraine unser Korrespondent Christian Wehrschütz verfolgt, hier sein Bericht:

Ein Park in einem Bezirk von Kiew; hier hält der Wahlblock von Präsident Petro Poroschenko eine Kundgebung ab, um den Kandidaten zu bewerben, der hier in einem Mehrheitswahlkreis antritt. Auf der Bühne stehen der farblose Bewerber, der Kommandant des im Westen als neonazistisch geltenden Freiwilligen-Bataillons Azow, Andrij Bilezki und der frühere Innenminister Jurij Luzenko. Das Urgestein der Organgenen Revolution des Jahres 2004 beschwört die etwa 200 Zuhörer, bei der Wahl für klare Verhältnisse zu sorgen; Juri Luzenko:

„Die schnellsten Reformen in Polen, Tschechien und Georgien und im Baltikum wurden durchgeführt, als der Präsident, der Regierungschef und der Parlamentspräsident von einer Partei waren. Genug der Parteiquoten, der ständigen Debatten; wir müssen eine neue europäische Ukraine erwecken. Daher unterstützt die Liste von Petro Poroschenko und auch unsere Kandidaten in den Mehrheitswahlkreisen. Gemeinsam sind wir eine Mannschaft.“

Das zweite Thema des Redners war der Krieg in der Ostukraine; eine friedliche Lösung sei ebenso notwendig wie die Modernisierung der Streitkräfte, betont Juri Luzenko:

„Bittere Wahrheit ist, dass die Jungs, die heute mit veralteten Waffen an der Front stehen diese Front nur wegen ihrer Tapferkeit halten. Mein Sohn, der beim Flughafen von Donezk eingesetzt ist, hat ein Gewehr aus dem Jahre 1963, das ist ein Jahr älter als ich es bin. Wir müssen alles tun, um moderne und zielgenaue Waffen zu haben, um die Ukraine nicht nur mit der nackten Brust zu schützen. Unsere Verbündeten in den USA und in Europa sagen, wir sind bereit, mit Waffen und Geld zu helfen, doch nur nach der Einstellung der Kämpfe. Denn mit Russland will niemand einen Dritten Weltkrieg. Daher sind wir gezwungen, eine Feuereinstellung zu erreichen und die Armee zu modernisieren.“

Krieg und Frieden waren die Schlüsselthemen des Wahlkampfes, der kaum über Großkundgebungen aber sehr intensiv über elektronische Medien geführt wurde. Kaum ein Thema war die massive wirtschaftliche und soziale Krise; klare Antworten blieben die Spitzenkandidaten meistens schuldig. Wage blieb auch Ministerpräsident Arzenij Jazenjuk, der Spitzenkandidat der neuen Partei „Volksfront“. Er stellte sich in der Aula der Universität Lemberg den Fragen der Studenten stellte. Zur Lage der Ukraine sagte Jazenjuk:

„Private Investoren kommen jetzt nicht. Es kommen nur internationale Finanzinstitutionen mit einer staatlichen Garantie. Das ist die praktische Hilfe der westlichen Welt für die Ukraine. Um das zu stoppen und damit die Wirtschaft wächst, müssen wir den Krieg in der Ostukraine stoppen. Vladimir Putin möchte, dass aus dem Donbas eine dauerhafte Zone der Instabilität, damit die Ukraine nicht normal leben kann. Welchen Plan haben wir? Zunächst geht es um die Stabilisierung von Donezk und Lugansk. Zweitens muss man das Ausgreifen des russischen Terrorismus verhindern; dann müssen wir den Grundstein legen, um die wirtschaftliche Lage weiter zu stabilisieren.“

Das Parlament in der Ukraine wird in einem Mischsystem gewählt; 225 Sitze werden über Parteilisten vergeben, für die eine Fünf-Prozent-Hürde gilt. Weitere 225 Mandate werden in Mehrheitswahlkreisen gewählt. Mehr als 3.000 Kandidaten treten in den Einerwahlkreisen an, 29 Parteien stehen auf dem Stimmzettel. Das Besondere an dieser Wahl ist der de facto Kriegszustand der Ukraine und der Verlust der Krim. Auf der nun zu Russland gehörenden Halbinsel kann gar nicht gewählt werden, in den östlichen Bezirken Lugansk und Donezk nur in den Gebieten, die nicht von prorussischen Rebellen kontrolliert werden. Geschätzt wird, dass zwischen 3,5 und 4,5 Millionen der insgesamt 36,5 Millionen stimmberechtigten Ukrainer nicht wählen können; betroffen sind 28 Mehrheitswahlkreise, so dass das neue Parlament statt 450 nur 422 Abgeordnete zählen wird. Sieben Parteien werden wohl sicher ins Parlament einziehen, wobei der Wahlblock von Präsident Petro Poroschenko nach Umfragen mit 33 Prozent klar führt.. Nicht mehr antreten wird die „Partei der Regionen“ des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch, aus der zwei Nachfolgeparteien hervorgegangen sind. Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal der Parteien sind das Verhältnis zu Russland sowie die Frage Krieg oder Frieden. Dazu sagt in Kiew der Politologe Kost Bondarenko:

"Für den Frieden sind in erster Linie der Wahlblock von Präsident Poroschenko, der für Friedensverhandlungen mit der Ostukraine ist. Diese Line unterstützt die Partei "Selbsthilfe" des Lemberger Bürgermeisters und wenig überraschend die beiden Parteien aus der Ostukraine, dessen Bevölkerung einfach kriegsmüde ist. Die Parteien des Krieges sind in erster Linie die Partei "Volksfront", die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko und die Radikale Partei von Oleg Lashko".

Fraglich ist wie demokratisch die Wahl trotz der 2.300 internationalen Wahlbeobachter verlaufen wird. Nach Angaben der Nicht-Regierungsorganisation „Opora“ wurden in den Kreisen Donezk und Lugansk 80 Prozent der Mitglieder der Wahlkommissionen ausgetauscht. Außerdem sollen selbst in Städten wie Donezk Wahlkommissionen gebildet worden sein, in denen die Rebellen die Parlamentswahl nicht zulassen werden. Mögliche Manipulationen am Wahltag erläutert die Leiterin einer Bezirkswahlbehörde in der Hafenstadt Mariupol, Tetjana Tjurewa, so:

„Das Phänomen nennen wir Karussell; da kommen dann Wähler zu irgendeinem Mitglied der Wahlkommission, bei dem man dann auch mit einem fremden Pass abstimmen kann. Das Mitglied der Kommission drückt die Augen zu, und trägt seine Daten dann bei einer toten Seele, sprich einem Wähler ein, der nicht wählen wird. Die zweite Form des Karussells besteht darin, dass ein Wähler bereits mit einem ausgefüllten Stimmzettel zur Wahl kommt, und dann im Wahllokal einen neuen Stimmzettel erhält, den er dann wieder weitergibt."

Nicht dieser Ansicht ist der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, Mihajlo Ohendowsjkij:

"Gemessen an der Realität sind die Möglichkeiten für Wahlbetrug weit übertrieben. Er wird immer wieder von den Parteien ins Treffen geführt, um ihre mögliche Wahlniederlage zu beschönigen. Redereien über den Kauf von Mitgliedern von Wahlkommissionen sind völlig unangebracht, doch natürlich bestehen überall auf der Welt Möglichkeiten zur Wahlmanipulation. Außerdem zeigen jüngste soziologische Untersuchungen, dass nur sieben Prozent der Ukrainer bereit sind ihre Stimme zu verkaufen. 85 Prozent schließen kategorisch aus, ihre Stimme zu verkaufen. Somit das das Risiko der Manipulation minimal.“

Faktum ist, dass die Wählerlisten der Ukraine sehr gut geführt werden; Fakt ist auch, dass Politologen wie Kost Bondarenko nicht der Ansicht sind, dass Manipulationen so groß sein können, dass sie den Wahlausgang tatsächlich beeinflussen. Fakt ist aber auch, dass die Finanzierung des Wahlkampfs völlig undurchsichtig ist, und dass Gerüchte im Umlauf sind, dass vordere Listenplätze zwischen 5 und 9 Milllionen US-Dollar gekostet haben sollen. Zur Wahlkampffinanzierung sagt Kost Bondarenko:

"Gesetzlich sind die Wahlkampfkosten je Partei auf 8,5 Millionen US-Dollar beschränkt. Gleichzeitig gibt eine Partei im Durschnitt allein für die Werbung um Fernsehen zwischen 10 bis 20 Millionen US-Dollar aus. Damit ist klar, dass das offiziell deklarierte Geld nur einen Bruchteil der tatsächlichen Ausgaben ausmacht. Wie üblich und bisher finanzieren die Parteien Oligarchen und ihre Gruppen, und man kann nur raten, wer hinter wem steht und welche Interessen verfolgt."

. Klar ist dagegen, dass die stärkste Kraft der neuen Regierung die Partei von Präsident Petro Poroschenko sein wird. Klar ist auch, dass sie im Parlament einen Koalitionspartner brauchen wird. Ob aber rasch eine stabile Regierung gebildet werden kann, um die Ukraine aus ihrer größten Krise seit der Unabhängigkeit zu führen, bleibt abzuwarten.

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