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Reportage aus der „belagerten“ Stadt Slowjansk

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Berichte Ukraine


Vor einigen Wochen hätte wohl kaum ein Österreicher gewusst, wo die ostukrainische Stadt Slowjansk liegt. Durch die Gefechte zwischen aufständischen prorussischen Milizen und ukrainischen Truppen hat sich das nun schlagartig geändert, und es vergeht kaum ein Tag, dass nicht über Kämpfe und Gefallen aus Slowjansk berichtet wird. Gestern herrschte in der 116.000 Einwohner zählenden Stadt eine Art Feuerpause und auch die Straßen waren offen. Diese Gelegenheit nutzte unser Korrespondent Christian Wehrschütz um sich selbst ein Bild vor Ort zu machen und folgende, doch eher unerwartete Reportage aus der Stadt zu gestalten, die ukrainische Truppen bisher jedenfalls nicht erobern konnten oder wollten:

Slowjansk liegt etwa zwei Autostunden von der Kreishauptstadt Donezk entfernt. Die Zufahrtsstraße Richtung Charkiw im Norden war gestern frei passierbar, sieht man von den vielen Kontrollposten ab, die die Aufständischen errichtet haben. Die mit Schlagstöcken und einigen Gewehren waffneten Männer verlangen, dass wir den Kofferraum öffnen und kontrollieren unsere Ausweise. Mit der von den Aufständischen in Donezk ausgestellten Journalisten-Akkreditierung geben sie sich zufrieden, und lassen uns weiterfahren. Auf dem Weg ins Stadtzentrum gibt es viele Barrikaden vor allem durch gefällte Bäume, Autoreifen und alle anderen brauchbaren Gegenstände. Vor einer Barrikade parkt ein schwarzer Jeep; auf der Fahrerseite gibt es einige Einschüsse; warum der Fahrer getötet wurde, lässt sich nicht ermitteln. Slowjansk hat 116.000 Einwohner, doch das Zentrum ist fast menschenleer aber unversehrt; keinerlei Spuren von Gefechten sind zu sehen. Vor einem geschlossenen Geschäft stehen drei Personen, eine ältere Frau, deren Goldzähne wohl noch aus sowjetischer Zeit stammen, ein Mann mit einem Rad und ein jüngerer, korpulenter Mann. Er beschreibt die Lage so:

"Im Stadtzentrum ist es ziemlich ruhig. Außerhalb natürlich nicht, weil in den zwei Vorstädten Simjonowka und Andrejewka Angriffe stattfinden. Wogegen gekämpft wird, kann ich nicht sagen, weil wir hier in Slowjansk aller für die Region Donbass sind. Wir wollen nicht, dass sich Russland oder ukrainische paramilitärische Milizen einmischen, wir in Slowjansk sind alle für den Frieden."

Wenige hundert Meter weiter am Leninplatz kleben auf der Statue des Staatsgründers der verflossenen Sowjetunion Bilder gefallener Verteidiger der Stadt. Die Stadtverwaltung ist verbarrikadiert, alle Geschäfte geschlossen. Zu den wenigen Spaziergängern an diesem sonnigen Tag zählt Lena mit ihrem Bekannten. Zur Versorgungslage sagt sie:

"Wir haben nur die Lebensmittel, die die Geschäfte auf Lager haben, weil die Zufahrtsstraßen alle geschlossen sind. Die Preise sind aber nur leicht gestiegen. Es gibt aber nur die Lager, die bei den Geschäften am Stadtrand vorhanden sind, doch die müssten natürlich aufgefüllt werden. Ich weiß nicht, wie das weitergehen wird, das ist sehr schlecht."

Lena ist Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Die 35-jährige ist für die Abspaltung von Donezk von der Ukraine:

"Ich will keine Ukrainerin mehr sein, nach den Ereignissen in Odessa; wie kann man so etwas anstellen, Menschen bei lebendigem Leib verbrennen. Das ist doch nicht normal. Daher will ich eine eigenständige Republik mit eigener Regierung und Verfassung, die weder zur Ukraine noch zu Russland gehört."

In der Nähe des Lenin-Platzes steht das Hotel Ukraina; dort wohnen die Journalisten, die aus der Stadt berichten. Dazu zählt der Balkan-Korrespondent des britischen Wochenmagazins, Tim Judah, der seit zehn Tagen in der Stadt ist. Den Widerspruch zwischen der Vorstellung von einem weitgehend zerstörten Slowjansk und der gestrigen Realität erklärt er so:

"Es gibt ziemlich viel schlechten Journalismus und natürlich den Krieg der Medien. Vieles was über Twitter kommt, ist nicht wahr, weil einige Medien daran interessiert sind, die Ereignisse für ihre eigenen Zwecke aufzublasen. Viele westliche Journalisten kommen nur zum Stadtrand oder nur sehr kurz in die Stadt, auch daher bekommt man kein umfassendes Bild. Die Ukrainer haben eine Art Ring um die Stadt gezogen und rücken langsam aber sicher vor. Heute ist es ruhig, doch gestern gab es kurze aber heftige Gefechte."

Die genannte Zahl von 30 Toten, sei aber falsch; vielleicht fielen fünf Aufständische, und vier Ukrainer, sagt Tim Judah. Sicher ist damit nur, dass auch in Slowjansk wie in der gesamten Ostukraine, die Wahrheit das erste Opfer der ukrainischen Krise gewesen ist.

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