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Reportage aus Lugansk und der Ostukraine

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Berichte Ukraine


In der Ukraine hat die Kampagne für die Präsidentenwahlen am 25. Mai nun begonnen. Dabei wird es auch um die Reform des gesamten Staates gehen, der bisher zentralistisch aus Kiew geführt wird. Nach dem Anschluss der Halbinsel Krim an Russland, fordern vor allem die russisch geprägten Kreise der Süd- und Ostukraine mehr Rechte. Dazu zählt auch der Kreis Lugansk. Ein Drittel der 2,3 Millionen Einwohner sind Pensionisten; ihr Durchschnittsalter liegt bei nur 50 Jahren, weil im Kreis Lugansk viele Arbeiter in der Schwerindustrie in Frührente gingen. Im Zentrum der Kreishauptstadt demonstrieren immer wieder einige hundert Personen für den Anschluss an Russland. Die Unzufriedenheit mit Kiew geht aber über diese Gruppen hinaus. Sie hängt auch mit der schlechten Infrastruktur zusammen, in die offensichtlich seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr investiert wurde. Aus Lugansk berichtet unser Korrespondent Christian Wehrschütz:

Die Kreishauptstadt Lugansk zählt 500.000 Einwohner; sie liegt ganz im Osten, nur 70 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Das Zentrum mit seiner breiten Prachtstraße, dem Park und dem Theater macht einen sauberen, wohlgeordneten Eindruck. Nur einen Kilometer davon entfernt, haben viele Straßen bereits mehr Löcher als Asphalt, der in dem Stadtteil Kamenobrodskij auch ganz verschwindet. Am Markt dieses Bezirks, kauft die Sozialarbeiterin Antonina Schetikowa drei Mal pro Woche für ein Pensionistenehepaar ein. Ausgegeben hat die Mitarbeiterin der österreichischen Caritas dieses Mal 20 Griwna, umgerechnet weniger als zwei Euro. Antonina Schetikowa:

"Der Familie habe ich sechs Stück weiches Gebäck und eine Hauswurst mit Pilzen gekauft. Sie bestellt nicht sehr viel, weil sie nicht sehr viel Geld haben. Die Pension ist klein, und die Mehrheit des Geldes wird für Medikamente und für Gebühren ausgegeben. Sie bekommt keine Unterstützung und bezahlt alles selbst."

Das Pensionistenehepaar lebt in einem kleinen Häuschen mit kleinem Garten, Hund und Katze. Der Mann ist 82 Jahre alt. Er diente für die Rote Armee in China und Korea; seinen Arm verlor er aber bei einem Arbeitsunfall. Seine Frau Alexandra ist 84; sie war Stuckateurin, hört und sieht schlecht. Zusammen haben beide 300 Euro Pension. Ihr Kontakt zur Außenwelt ist im Grunde die Sozialarbeiterin. 30 derartige Fälle betreut die österreichische Caritas in Lugansk. Von den 2,3 Millionen Einwohnern des Kreises stehen nur 500.000 im Berufsleben; weitere 100.000 arbeiten vorwiegend in Russland im Bergbau. Die Schwerindustrie war im zaristischen Russland und in der Sowjetunion der Motor der Entwicklung in der Südukraine. Dazu sagt die Leiterin des Sozialreferats von Lugansk, Elenora Polischuk:

„Hierher kamen Menschen aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion; bei uns leben mehr als 120 Nationalitäten, Ukrainer, Weißrussen, Russen, Serben, Kalmücken. Die Zuwanderer kamen ohne Familien, verdienten ihr Geld und kehrten wieder zurück. Doch viele gründeten hier Familien und blieben. In der Regel hatten unsere Familien nicht viele Kinder, weil niemand auf sie aufpassen konnte. Die Eltern arbeiteten in Sowjet-Zeiten sogar in drei Schichten. Ein Vergleich mit dem Kreis Lemberg, ganz im Westen, ergibt folgendes Bild: in Lemberg hatten 80 Prozent der Familien drei und mehr Kinder, bei uns aber nur ein Kind.“

Der Kreis Lemberg hat etwas mehr Einwohner und ist landwirtschaftlicher geprägt als Lugansk. Lemberg ist die Hochburg des ukrainischen Nationalismus; im Kreis Lugansk leben Ukrainer eher in Dörfern, in der Stadt sind ukrainische Aufschriften eine Seltenheit; Lugansk macht einen russisch-sowjetischen Eindruck. Dazu sagt Elenora Polischuk:

„Der Südosten war durch seine Arbeitskräfte politisch kommunistisch und daher auch atheistisch geprägt. Hinzu kamen noch Soldaten der Roten Armee. Vergessen darf man nicht, dass die Westukraine erst mit dem Zweiten Weltkrieg Teil der Sowjetunion wurde; daher konnten in Lemberg die Traditionen besser bewahrt werden als hier.“

Erspart blieb der Westukraine somit der sogenannte Holodomor erspart, die von Stalin in den dreißiger Jahren künstlich herbeigeführte Hungersnot, der zwischen drei und sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ermordet wurden vor allem Bauern, die Träger der ukrainischen Identität. Davon betroffen war auch Lugansk, heute prägen Lugansk vor allem seine vielfach veraltete Schwerindustrie und die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, weil es die Regierung in Kiew auch 20 Jahre nach der Unabhängigkeit nicht verstanden hat, aus der Ukraine einen modernen Staat zu machen.

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