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Europajournal Die Sicht junger Ukrainer auf die Lage ihres Landes und die EU

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Am Samstag stürzte der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch. Zum bisher letzten Mal wurde er am Tag danach auf dem Flughafen der osukrainischen Stadt Donezk gesehen, wo ihm der Abflug mangels an Papieren verweigert wurde. Seither auf der Flucht hinterlässt Janukowitsch der neuen Staatsführung eine drückende Erblast. Die Währung Grivna wird jeden Tag weniger wert, die Wirtschaft liegt danieder und der von der Ukraine genannte Finanzbedarf von 20 Milliarden Euro soll gerade bis zum Jahresende reichen. Zu all den wirtschaftlichen Problemen kommen noch Spannungen auf der Halbinsel Krim, wo auch die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist. Unser Korrespondent Christian Wehrschütz hat in Kiew mit vielen jungen Ukrainern über ihre Erwartungen an die neue Regierung und über ihre Haltung zur Europäischen Union gesprochen. Hier sein Bericht:

Am Unabhängigkeitsplatz in Kiew wurden vorgestern die Namen der erschossenen Ukrainer verlesen, ehe dann schließlich die Übergangsregierung unter Arsenij Jazenjuk auf diesem monatelang umkämpften Platz präsentiert wurde. Auf jeden Namen antwortete die Menge mit dem Ruf „Slava“ zu Deutsch Ruhm. Die Anteilnahme der Kiewer am Schicksal der Opfer und ihrer Familien war enorm. Der Majdan war von Blumen und Kerzen übersät. Den Opfern erwies auch die 19-jährige Elisaweta Pljaschetschnik die Ehre. Sie studiert an der Philologischen Fakultät der Universität Kiew und zählt zu den Demonstranten der ersten Stunde. Am Tag des Blutbades, das Scharfschützen am Majdan anrichteten, war sie ebenfalls im Einsatz, erzählt Elisaweta Pljaschetschnik:

„Ich befand mich im Gebäude der Kiewer Stadtverwaltung. Dorthin habe ich für die Ärzte Medikamente gebracht. Natürlich haben sich meine Eltern deswegen große Sorgen gemacht, doch sie haben verstanden, dass die Gefahr nicht sehr groß war. Das war eine freiwillige Hilfe, die in diesem Augenblick einfach notwendig war."

Die Majdan-Bewegung führte schließlich den Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch herbei, der nach Russland geflüchtet ist. Er solle sich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten, befürwortet Elisaveta den entsprechenden Beschluss des Parlaments in Kiew. Darüber hinaus glaubt die 19-jährige, dass der Majdan die Ukraine tiefgreifend verändern wird. Elisaweta Pljaschetschnik:

Auf dem Majdan sind Leute, die weiter für ihre Forderungen eintreten. Wir sind gegen Korruption, gegen Ungerechtigkeiten, und in der neuen Regierung sind auch Personen vertreten, die aus dem Majdan hervorgegangen sind. Die ukrainische Gesellschaft muss sich bewusst werden, dass das eine Revolution ist, die das ukrainische Selbstbewusstsein geweckt hat. Und wir hoffen, dass das die Ukrainer auch weiter beeinflussen wird."

Dazu zählt der Kampf gegen die in der Ukraine grassierende Korruption. Sie durchdringt alle Lebensbereiche, dürfte aber bei der Polizei und im Bildungs- und Gesundheitswesen am verbreitetsten sein. Ihre Erfahrungen in einem Krankenhaus schildert die Studentin Irina Gumentschuk so:

"Wie schaut die Prozedur aus, um zu einer Operation zu kommen? Ohne, dass man einen Arzt oder jemand anderen kennt, der einen Arzt kennt, ist es praktisch nicht möglich, dass alles gut verläuft. Damit der Chefarzt bei einer Operation dabei ist, muss man bereits Schmiergeld zahlen, und jedes Krankenhaus hat seine Preisliste, die vom Niveau des Krankenhauses und auch von der Stadt abhängt. Geld muss man auch jeder Krankenschwester geben. Meine Schwester und ich haben jedenfalls nie gute Erfahrungen mit Spitälern gemacht."

Irina ist 22 Jahre alt, studiert Deutsch und Englisch in Kiew und leitet die Jugendorganisation eines Rotary Klubs. Diese Organisation ist ein Sammelbecken für die kleine bürgerliche Schicht, die es in der Ukraine gibt, die an sich von vielen Armen und wenigen Superreichen geprägt wird. Zum Interview hat Irina drei Kolleginnen Marija, Natalia und Ksenija mitgebracht; die drei sind je 21 Jahre alt und gehören auch der Rotary-Bewegung an. Uneinig sind sich die Vier, ob der 40-jährige Arsenij Jazenjuk der geeignete Mann für das Amt des Ministerpräsidenten ist und bereit sein wird, durch schmerzliche Reformen die Ukraine aus der Krise zu führen. Positiv bewertet Jazenjuk unter dem Strich Marija, die Internationale Beziehungen studiert:

"Persönlich ist er mir nicht sympathisch, und auch auf dem Majdan hat er sich nicht bewährt. Sein ganzes Leben hat er sich nur mit Politik befasst, und dabei ist er nicht besonders hervorgetreten. Doch in der heutigen Situation ist das eine Rechtfertigung dafür, dass er Regierungschef ist. Er ist ein kluger Mann, ein guter Wirtschaftsexperte, er wird vom Westen unterstütz, er hat ein gutes Image und Erfahrung, und er kann die Leute zum Arbeiten bringen."

Als Präsident Viktor Janukowitsch im Herbst das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU nicht unterzeichnete, waren es die Studenten, die Ende November als erstes in Kiew auf die Straße gingen. Mit dabei waren auch Irina, Natalja, Marija und Ksenija. Doch große Hoffnungen setzen die Vier nicht in die EU, die der Ukraine nicht ein Mal die Perspektive einer Mitgliedschaft bietet. Dazu sagt Natalia, die so wie Irina Deutsch und Englisch studiert:

"Als Mitglied braucht uns die EU einfach nicht. Das ist einfach eine politische Tatsache, obwohl die Ukraine ein Land mit großer Perspektive ist; doch die Ukraine ist eben erst 22 Jahre unabhängig. Was wir aber nicht brauchen ist ein politisches Spiel zwischen Europa und Russland. Als Studentin möchte ich aber sagen, dass ich mich nicht mit Bürokratie herumschlagen möchte, sondern einfach durch Europa fahren will. Wir müssen sehr viele Dokumente vorbereiten, damit uns Europa akzeptiert. Doch ich möchte Erfahrungen sammeln und mehr Kontakte haben. Was die Wirtschaft betrifft, so denke ich, ist es nicht real, dass die Ukraine in naher Zukunft, in fünf bis zehn Jahren, der EU beitreten kann."

Den Visumszwang sehen die Studentinnen auch als Zeichen der Isolation der Ukraine von Europa. Als wichtig empfinden sie die EU-Standards für die Reform von Bildungs- und Gesundheitswesen. In Wirklichkeit sei die EU aber an der Ukraine gar nicht interessiert, sagte Ksenija, die internationale Beziehungen studiert:

"Der Majdan begann mit friedlichen Studentenprotesten für Europa; doch die Menschen starben nicht für Europa, sondern für eine unabhängige und selbstständige Ukraine. Ich war schon in Italien und habe mit Europäern gesprochen; dabei habe ich den Eindruck gewonnen, dass Europa mit seinen Problemen genug zu tun hat, und das kein Wunsch besteht, auch noch fremde Probleme lösen zu müssen. Natürlich können sie uns helfen und Erklärungen abgeben und sind sehr besorgt, doch reale Taten haben wir nicht gesehen. Zuerst müssen wir einfach unser Land stabilisieren und dann kann man mit der EU-Integration fortfahren, doch das wird Jahre dauern."

Derzeit kämpft die Ukraine gegen den Staatsbankrott und um ihre territoriale Integrität. Zwar haben die östlichen, kulturell russisch geprägten und wirtschaftlich von Russland abhängigen Landesteile den Machtwechsel in Kiew akzeptiert. Das gilt aber nicht für die Halbinsel Krim; dort soll ausgerechnet am 25. Mai, am Tag der vorgezogenen Präsidentenwahlen in der Ukraine, ein Referendum über den künftigen Status der Krim abgehalten werden. Die Studentin Elisaweta Pljaschetschnik wurde auf der Krim geboren. Ihre Oma lebt noch dort, und die 19-jährige Studentin war auf Urlaub auf der Halbinsel. Zur Krim sagt Elisaweta Pljaschetschnik:

"Die Krim ist ziemlich russifiziert; das gilt vor allem für Sewastopol, wo die Schwarzmeer-Flotte stationiert ist. Ich verstehe diese Menschen, weil ich von der Krim stamme, und natürlich wollen sie zu Russland. Doch das ist nicht möglich. Die Krim wird die Ukraine nicht einfach hergeben, denn nur ukrainisches Geld sichert ihren Bestand und im Rahmen Russlands wäre sie überhaupt nicht lebensfähig."

Wenige hundert Meter vom Platz der Unabhängigkeit in Kiew entfernt, steht das Denkmal über die Wiedervereinigung der Ukraine und Russlands. Es stammt aus sowjetischer Zeit. Die Sowjetunion ist schon lange Geschichte; doch einen Ausweg aus ihrer Position als Pufferzone zwischen Russland und der EU hat die Ukraine bis jetzt nicht gefunden. Das dies in den kommenden Jahren gelingt, bleibt den sympathischen Studentinnen Elisaweta, Irina, Natalja, Marija und Ksenija zu wünschen.
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