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Vreme Janukowitschs Ende – Kiews zweiter 5. Oktober

Sonstiges
Berichte Ukraine
Christian Wehrschütz

Balkan-Korrespondent des ORF

Sondereinsatz in Kiew, spricht russisch und ukrainisch, hat von 1992 bis 1998 sieben Monate in verschiedenen Teilen der Ukraine gelebt und viel über dieses Land publiziert

Janukowitschs Ende – Kiews zweiter 5. Oktober

„Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben!“

Goethe, Faust

Freitag, den 22. Feburar, unterzeichneten der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch und die Führer der Oppositionsparteien, Vitali Klitschko, Arseni Jazenjuk und Oleg Tjahnibog im Beisein der Außenminister Deutschlands und Polens eine Vereinbarung, die den Weg zu einem friedlichen Lösung des Machtkampfs in der Ukraine ebenen sollte. Zugestimmt hatten auch die Führer der sogenannten Majdan-Bewegung, also jener Gruppe, die auf dem Platz (ukrainisch Majdan) der Unabhängigkeit und im ganzen Land den Widerstand gegen Präsident Janukowitsch organisierten hatten. Als ich am selben Abend durch das Zentrum von Kiew beim Unabhängigkeitsplatz spazierte, waren sämtliche Einheiten der Miliz und der Sonderpolizei „Berkut“ (Ukrainisch: Steinadler) verschwunden. Alle bisher von einem massiven Polizeiaufgebot bewachten strategischen Gebäude, Regierung, Parlament, Amtssitz des Präsidenten waren ungeschützt. Zwar war der Rückzug der Sonderpolizei Teil der Sechs-Punkte-Vereinbarung, doch dieser völlige Abzug erzeugte ein Machtvakuum, das nur wenige Stunden dauerte.

Denn die Opposition ließ sich diese Einladung und de facto Übergabe der Hauptstadt Kiew nicht entgehen! Bereits Samstag Früh begann die Besetzung dieser Gebäude durch die Majdan-Bewegung; das Parlament trat zu einer Sondersitzung zusammen wobei der Präsident die Hauptstadt bereit in der Nacht auf Samstag in Richtung Ostukraine verlassen hatte. Bereits am Samstagabend war die Herrschaft von Janukowitsch in Kiew Geschichte. Das Parlament wählt Alexander Turtschinow zu seinem Vorsitzenden und Arsen Awakow zum Innenminister. Wenig später übernahm Turtschinow auch die Funktion eines amtsführenden Staatspräsidenten. Beide sind Vertraute von JuliaT imoschenko, der Führerin der Oppositionspartei „Vaterland“. Ihre sofortige Freilassung aus der Haft in Charkiw verfügten die Abgeordneten ebenfalls. Die frühere Regierungschefin Timoschenko saß seit zweieinhalb Jahren im Gefängnis, wo sie eine siebenjährige Freiheitsstrafe hätte verbüßen müssen, zu der sie unter Janukowitsch in einem fragwürdigen Prozess verurteilt worden war.

Als am Samstag auch noch die Polizei in Kiew zur Opposition überlief, war die Erinnerung an den 5. Oktober 2000, an den Sturz von Slobodan Milosevic in Belgrad, besonders stark. An diesem Tag hatten das Parlament in Belgrad ebenfalls nur mehr unzureichende Kräfte der Polizei geschützt, deren Kampfeswille kaum mehr mit jener Polizei vergleichbar war, die 1996 gegen die Demonstrationen zur Fälschung der Lokalwahlen in Serbien zum Einsatz kam. Gerade in diesen Tagen erinnern viele Elemente der Machtergreifung und der Uneinigkeit der Opposition, die im Grunde nur die Gegnerschaft zu Janukowtisch eint, an die Wochen und Monate nach dem 5. Oktober 2000 in Belgrad, wo die Koalition DOS ebenfalls rasch Auflösungserscheinungen zeigte. Doch zunächst sollen die gravierenden Unterschiede dargestellt werden. In Belgrad starb ein Demonstrant, und dieser Tod war eine indirekte Folge der „samtenen Revolution“. In Kiew starben etwa 80 Personen, darunter auch Polizisten. Am schlimmsten waren die Scharfschützen, wobei jedenfalls derzeit nicht wirklich klar ist, wer die Schießbefehle gab und wer alles geschossen hat. Selbst internationale Institutionen geben zu, dass die reguläre Polizei die Feuerbefehle für die Scharfschützen nicht gegeben hat. Zu neuen Gewalttaten kam es immer am Tag nach Vereinbarungen, die eigentlich deeskalierend hätten wirken sollen (Amnestiegesetz, Waffenruhe). Daher stellt sich die Frage, wer ein Interesse daran gehabt haben kann, dass es zu derartigen Gewalttaten kam, die schließlich mit dem Sturz des Regimes von Janukowitsch endeten.

Unterschiedlich waren auch die Anlässe für die Massenproteste. In Belgrad waren sie eine Reaktion auf den neuerlichen Versuch von Slobodan Milosevic, die Präsidentenwahl zu fälschen; in Kiew begannen die Demonstrationen, weil Viktor Janukowtisch das Assoziations-abkommen mit der EU nicht unterzeichnete. Die gewaltsame, völlig unangemessene Niederschlagung der Studentenproteste im November löste dann die Besetzung des Majdan und die Massenproteste aus, bei der ultranationalistische Milizen (im Gegensatz zu Belgrad) eine wichtige Rolle spielten, während die politische Opposition dann erst auf den fahrenden Zug aufsprang.

Gemeinsam ist beiden Ereignissen die weitgehend unkritische Berichterstattung vieler ausländischer Medien, die die Oppositionellen zu proeuropäischen Helden und Janukowitsch zum prorussischen Bösewicht hochstilisierten. Doch in der Ukraine gibt es nur mehr oder wenige Böse, aber keine Guten, und Janukowitsch dürfte das EU-Abkommen nur deshalb nicht unterschrieben haben, weil damals weder EU noch IWF bereit waren, das Geld in die Hand zu nehmen, dass die Ukraine gebraucht hätte, um dem russischen Druck stand zu halten. Gemeinsam ist Belgrad und Kiew auch die Zerstrittenheit der Opposition. Ob nach dem Scheitern der „Orangenen Revolution“ vor zehn Jahren Julia Timoschenko nun eine zweite Chance bekommt, ist fraglich. Ihr Dauerkonflikt mit Präsident Juschtschenko brachte Janukowtisch erst an die Macht. Basis dafür war die unklare Kompetenzverteilung zwischen Premier und Präsident durch die Verfassung von 2004, die nun wieder in Kraft gesetzt wurde, und die auf dem Weg Richtung EU eigentlich einen Rückschritt darstellt. Bereits dedr Wahlkampf um das Präsidentenamt wird zeigen, ob die früheren Oppositionspolitiker nun aus ihren Fehlern gelernt haben. Während des gesamten Konflikts hielt der kulturell russische geprägte und wirtschaftlich stark von Russland abhängige Osten der Ukraine nicht zuletzt unter dem Einfluss von Oligarchen still. Das kann so bleiben, wenn die neuen Machthaber in Kiew auf eine gewaltsame Ukrainisierung dieser Landesteile verzichten. Ob diese Weisheit vorhanden sein wird ist ebenso fraglich, wie die Fähigkeit der neuen-alten Machthaber zweifelhaft ist, die Ukraine wirtschaftlich und sozial aus der Krise zu führen, für die auch die ehemalige Oligarchin Julia Timoschenko verantwortlich ist.
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