IGH-Urteil macht Aufarbeitung der Vergangegenheit im ehemaligen Jugoslawien nicht leichter
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Für die Aufarbeitung der Vergangenheit in Serbien bedeutet das Urteil des IGH ein äußerst zweischneidiges Schwert. So stellt Präsident Boris Tadic die große Ausnahme dar, denn er hat in seiner Stellungnahme darauf verwiesen, dass der schwierigste Teil des Urteilsspruches darin bestehe, dass Serbien nicht alles Möglich getan habe, um einen Völkermord zu verhindern. Dagegen hat Ministerpräsident Vojislav Kostunica vor allem darauf verwiesen, dass Serbien vom Vorwurf des Völkermordes freigesprochen worden sei. Noch viel weiter gehen Milosevic-Sozialisten und Ultranationalisten. So bezeichnete der Vorsitzende der Sozialisten, Ivica Dacic, das Urteil als Beweis dafür, dass nun das „Gerede über die Kommandantenverantwortung Serbiens und Jugoslawiens sinnlos“ geworden sei. Das gelte damit auch für das Haager Tribunal und den Prozess gegen Slobodan Milosevic, dem gerade deswegen der Prozess gemacht wurde, weil er der Verantwortung für Kriegsverbrechen beschuldigt worden war. Doch zwischen Völkermord und Kriegsverbrechen wird in Serbien nun noch weniger unterschieden werden, zumal etwa die Leugnung der Opferzahl von Srebrenica noch immer weit verbreitet ist. So bewertete der stellvertretende Vorsitzende der ultranationalistischen Radikalen Partei, Tomislav Nikolic, Srebrenica als schweres Kriegsverbrechen, bei dem zwischen 1000 und 2000 Personen ermordet worden seien. Damit negiert Nikolic eine Opferzahl, die erwiesenermaßen drei bis vier Mal höher ist. Nikolic bezeichnete das Urteil auch als „Teil einer großen Verschwörung“. Ihr Ziel sei es, die Existenz der Republika Srpska in Bosnien in Frage zu stellen, die als „Geschöpf des Völkermordes“ angesehen werde.
So geistig eindimensional diese Verschwörungstheorie ist, so weit verbreitet ist in Bosnien unter Bosnjaken diese Sichtweise. Sie begründen ihre Forderung nach Beseitigung der bosnischen Serbenrepublik gerade mit der Behauptung, diese Entität sei ein Produkt des Völkermordes. In dem Sinne forderte das bosnjakische Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums; Harris Silajdjic, die Verfassung, (den Dayton-Vertrag) zu ändern, die ein direktes Resultat des Völkermordes sei. Silajdic bedauerte denn, dass Serbien nicht wegen Völkermordes verurteilt worden sei. Doch das Urteil des IGH hätte in Bosnien, wie immer es ausgefallen wäre, die Gräben zwischen den Volksgruppen vertieft. Während Bosnjaken und Kroaten nun enttäuscht sind, sind die bosnischen Serben eher zufrieden, die jedoch nun allein mit der Verantwortung für Srebrenica leben müssen. Für den umgekehrten Fall hatten die bosnischen Serben bereits vorsorglich angekündigt, eine Verurteilung Serbiens nicht akzeptieren zu wollen.
Die Gegensätze zwischen den Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina werden somit durch das Urteil des IGH nicht geringer werden, weil einfach kein gemeinsames Geschichtsbild besteht. Dieses gemeinsame Geschichtsbild wird in Serbien ebenso noch lange auf sich warten lassen wie eine umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit. Im Gegenteil; viele (Ultra-)Nationalisten werden das Urteil des IGH als Bestätigung für die Opferrolle Serbiens sehen, doch nicht nur in Bosnien, sondern auch im Kosovo. Denn auch für den Kosovo fehlt jedes Bewusstsein für die Verbrechen, die im serbischen Namen begangen wurden. Nach dem Freispruch durch den IGH, so gerechtfertigt und begründet er juristisch sein mag, wird Serbien daher emotional noch weniger bereit sein, die Unabhängigkeit des Kosovo zu akzeptieren, der wegen Milosevics Politik verloren ging; auch die (selbst-)kritische Aufarbeitung der Ära Milosevic und ihrer gerade auch katastrophalen Folgen für das serbische Volk, ist somit mit dem heutigen Urteil nicht leichter geworden.