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Srebrenica und die Verantwortung der Niederlande

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Das Massaker an mehr als 7.000 Bosniaken in Srebrenica im Juli 1995 ist auch 17 Jahre später noch nicht aufgearbeitet. Zwar hat vor dem Haager Tribunal nun der Prozess gegen den mutmaßliche Hauptverantwortliche, General Ratko Mladic, begonnen und in Bosnien kam es zur Aburteilung einiger unmittelbarer Täter. Doch bei weitem noch nicht aufgearbeitet ist die Rolle, die die UNO, die politische Führung der Niederlande und das niederländische UNO-Bataillon Dutchbat in Srebrenica unmittelbar vor, während und nach dem Massaker spielten. Seit Jahren um die Wahrheit kämpft der Bosniake Hasan Nuhanovic gemeinsam mit seiner niederländischen Rechtsanwältin Liesbeth Zegveld. Der nunmehr 44-jährige Nuhanovic arbeitete als Dolmetscher für Dutchbat, das die Bosnjaken in der im April 1993 errichteten UNO-Schutzzone hätte schützen sollen. Nuhanovic verlor Bruder, Mutter und Vater, die die Blauhelme an die Serben ausgeliefert haben. Deswegen wirft Nuhanovic den Niederlanden Beihilfe zum Völkermord vor. In erster Instanz wies ein Gericht in Den Haag Nuhanovics Klage im September 2008 ab; für das Verhalten ihrer Soldaten seien die Niederlande nicht haftbar, lautete die Begründung. Doch das Berufungsgericht hob dieses Urteil im Juli 2011 weitgehend auf befand die Niederlande für mitverantwortlich für die Morde an Nuhanovics Vater und Bruder. Die Behandlung weiterer Einsprüche dauerte bis Anfang Juni 2012, und nun haben die Niederlande drei Monate Zeit, gegen das Urteil zu berufen. Über dieses Verfahren und über die Rolle der Blauhelme in Srebrenica hat unser Balkan-Korrespondent mit Hasan Nuhanovic in Sarajewo und Liesbeth Zegveld in Amsterdam gesprochen hier sein Bericht:

Am 11. Juli 1995 fiel Srebrenica in die Hand von General Ratko Mladic. Die Forderung der niederländischen Blauhelme nach Luftangriffen erfüllten UNO und NATO nicht. Die 400 leicht bewaffneten UNO-Soldaten hatten daher gegen die 2.000 gut ausgerüsteten Soldaten der bosnischen Serben keine Chance. Aus dem von Granatbeschuss schwer gezeichneten Srebrenica flohen die Bosniaken in das wenige Kilometer entfernte Potocari, wo Dutchbat, das niederländische Bataillon, in einer ehemaligen Fabrik sein Hauptquartier hatte. Davor drängten sich mehr als 20.000 Flüchtlinge. Etwa 5.000 hatten es in die Basis geschafft, ehe die Niederländer den Zugang sperrten. Diese Bosniaken lieferten die Blauhelme am 13. Juli den Serben aus. Am Abend kam auch die Familie von Hasan Nuhanovic an die Reihe, der für Dutchbat als Dolmetscher arbeitete. Als sein damals 20-jähriger Bruder, sein Vater und seine Mutter beim stellvertretenden Bataillonskommandanten, Major Robert Franken, vorbeigingen, schöpfte Hasan Nuhanovic noch einmal Hoffnung:

„Während Mutter und Bruder weiter auf das Tor zugingen, sagte Major Franken zu mir: „Hasan, übersetze deinem Vater, dass er bleiben kann.“ Das war der Augenblick, in dem ich dachte, dass sich die Dinge zu unserem Vorteil wendeten, also es ging da um eine Sekunde, in der mir durch den Kopf ging, dass wir gerettet sind, dass meine Familie gerettet ist. Dann zeigte mein Vater in Richtung meiner Mutter und meines Bruders und fragte Franken. „Und was ist mit meinem jüngeren Sohn?“ Dann sagte Franken zu mir: „Übersetze deinem Vater, dass er bleiben oder hinausgehen kann, das ist seine Wahl“. Mein Vater lächelte, reichte Franken die Hand und lief weiter, um Bruder und Mutter einzuholen.“

Bis heute hat Nuhanovic die Leichen seiner Angehörigen nicht gefunden. Dutchbat wirft er Beihilfe zum Völkermord vor; Hasan Nuhanovic:

„Ich habe versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren, doch ich habe keine Angaben darüber gefunden, dass Ratko Mladic von den Niederländern oder von der UNO gefordert hätte, ihm diese Zivilisten auszuliefern. Wenn die Soldaten schon keine 5.000 Menschen im Stützpunkt halten konnten, warum ließen sie dann nicht die Männer da; sie wussten, dass es die Männer waren, um deren Leben es ging.“

Diese Darstellung stützt der Bericht der UNO vom November 1999 über die Ereignisse in Srebrenica; auch die Niederlande haben im Rechtsstreit mit Nuhanovic nichts Gegenteiliges behauptet. Sehr wohl enthält der UNO-Bericht klare Hinweise, dass die Blauhelme von Morden an männlichen Bosniaken wussten, die am 12. und am 13. Juli im Raum Potocari stattfanden. Hinzu kommt, dass die Armee der bosnischen Serben bereits am 12. Juli mit dem Abtransport von Frauen und Kleinkindern sowie mit der Trennung von männlichen Personen im Alter von 17 bis 60 Jahren begonnen hatte. All das ließ wohl das Schlimmste befürchten, trotzdem begannen die UNO-Soldaten um die Mittagszeit des 13. Juli mit der Auslieferung Dazu sagt Nuhanovics niederländische Rechtsanwältin Liesbeth Zegveld:

„Sie wollten weg, und die Flüchtlinge waren ein Hindernis. Denn es gab eine Vereinbarung mit der UNO, nicht abzuziehen, solange die Flüchtlinge nicht weg waren oder mit ihnen zusammen abziehen. Solange also die Flüchtlinge dort waren, hatte Dutchbat zu bleiben.“

Im Jahre 2002 klagte Zegveld im Auftrag von Nuhanovic den niederländischen Staat. Nicht nur die UNO, sondern auch die Regierung in Den Haag habe Befehlsgewalt über Dutchbat in Srebrenica ausgeübt; daher seien auch die Niederlande für den Tod von Nuhanovics Familie verantwortlich, hieß es in der Klage. Im Herbst 2008 wies die erste Instanz die Klage ab; für das Verhalten der Soldaten seien die Niederlande nicht haftbar, sondern nur die UNO, die jedoch völkerrechtliche Immunität genießt. Dieses Urteil hob das Berufungsgericht im Juli 2011 mit Einschränkungen auf; Dutchbat und die Niederlande seien nur für den Tod von Nuhanovics Bruder und Vater, nicht aber auch für den Tod seiner Mutter verantwortlich. Dazu sagt Liesbeth Zegveld:

„Nach Ansicht des Gerichts konnten die niederländischen Soldaten nur um die Risiken für seinen Vater und Bruder wissen. Sie waren Männer, und die bosnischen Serben hatten ein spezielles Interesse an Männern, bei denen die Möglichkeit bestand, dass sie Soldaten und damit mögliche Feinde würden. Daher bestand das größte Risiko für die Männer. So wurde Nuhanovics Mutter ebenso wie viele andere Frauen und Kinder aus der Basis verwiesen, doch bei ihnen konnten die Niederländer annähmen, dass sie sichere Gebiete erreichen konnten.“

Doch Dutchbat, die UNO und die Niederlande kümmerte damals das Schicksal der männlichen Bosniaken offenbar nicht besonders intensiv. Wie nachlässig vorgegangen wurde, zeigt das Schicksal einer Namensliste von 239 Männern, die zu den Flüchtlingen im Lager der Blauhelme zählten. Diese Liste ließ der stellvertretenden Dutchbat-Kommandant Robert Franken erstellen. Doch bei den Gesprächen, die hochrangige internationale Vertreter am 14. und 15. Juli in Belgrad mit dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic und mit General Ratko Mladic führten, spielte diese Liste keine Rolle. Zu diesem Zeitpunkt war das Massaker voll im Gange; vielleicht hätte die Präsentation dieser Liste Leben retten können, doch erst nach Monaten wurde sie beim niederländischen Verteidigungsministerium gefunden. Durch das Urteil zweiter Instanz im Fall Nuhanovic könnte diese Liste 17 Jahre nach dem Massaker nun wieder bedeutsam werden, betont Liesbeth Zegveld:

„Ich würde sagen dass auf der Basis dieses Urteils alle Männer, die auf dem Gelände waren eine Grundlage für eine Klage haben. Als die Ausweisung am 13. Juli 1995 zu Mittag begann, gab es bereits Berichte über die Ermordung von bosniakischen Männern außerhalb des Geländes, und Dutchbat war sich bereits über das Risiko bewusst, das auf diese Männer zukam. Daher würde ich nicht sagen, dass ein Unterschied von fünf Stunden zwischen der Ausweisung von Nuhanovics Familie und der anderen Flüchtlinge der entscheidender Faktor ist, um die Ansprüche der anderen Flüchtlinge abzuweisen.“

Schadensersatzansprüche kann auch Hasan Nuhanovic erst stellen, wenn die Niederlande nicht gegen das Urteil zweiter Instanz berufen. Die Frist dazu endet Anfang September. Die rechtlichen Folgen einer allfälligen Berufung erläutert Zegveld so:

„Der Oberste Gerichtshof befasst sich nur mit Rechtsfragen. Somit bleibt ihm nur die Frage, wer für dieses gesetzwidrige Verhalten verantwortlich ist. Der Oberste Gerichtshof könnte entscheiden, dass die zweite Instanz Unrecht hatte, und nicht die Niederlande sondern die UNO verantwortlich sind für die Auslieferung der Flüchtlinge. Dann stehen die Verwandten der Opfer mit leeren Händen da, weil zwar das rechtswidrige Verhalten festgestellt wurde, es aber keine Verantwortung gibt. Denn die UNO ist immun und hat die gesamten vergangenen 17 Jahre geschwiegen.“

Nicht zur Verantwortung gezogen wurden bisher auch die militärische Führung von Dutchbat, Oberstleutnant Thomas Karremans und sein Stellvertreter Major Robert Franken. Gegen sie hat Liesbeth Zegveld Strafanzeige erstattet; über die Einleitung eines Verfahrens dürfte die Generalstaatsanwaltschaft in Den Haag bis Ende Juni entscheiden, wobei Zegveld eine politische Einflussnahme durch das niederländische Justizministerium nicht ausschließt.

Postskriptum:

Am 21. Juli 1995 verließen die Blauhelme Srebrenica. Beim Abzug ließ sich Oberstleutnant Karremans, von Ratko Mladic sogar ein Geschenk für seine Frau überreichen. Nach seiner Rückkehr in die Niederlande wurde Karremans zum Oberst befördert. Im Dezember 2006 erhielten Karremans und 500 ehemalige UNO-Soldaten von der Regierung einen Orden. Eine offizielle Entschuldigung der Niederlande bei den Hinterbliebenen von Srebrenica steht bis heute aus.

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