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Bosnien ein Jahr ohne Regierung

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Berichte Bosnien
Heute vor einem Jahr fanden in Bosnien und Herzegowina Parlamentswahlen statt. Doch 12 Monate später hat das Land noch immer keine gesamtstaatliche Regierung. Der Grund dafür ist einfach: muslimische Bosniaken, Kroaten und Serben konnten sich bisher weder personell noch inhaltlich einigen. Im ehemaligen Jugoslawien wird Bosnien somit immer mehr zum größten Sorgenkind, denn der Zusammenhalt zwischen den drei Völkern ist ebenso schwach wie die EU-Perspektive, weil Schlüsselreformen bisher einfach nicht angegangen wurden. Über die Lage in Bosnien und Herzegowina ein Jahr nach der Wahl berichtet aus Belgrad unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz:

Bosnien und Herzegowina besteht aus einem Gesamtstaat und zwei Teilstaaten, der zentralistisch aufgebauten Republika Srpska und der in zehn Kantonen gegliederten bosnisch-kroatischen Föderation. Während die Regierungen der Teilstaaten gebildet werden konnten, fehlt die Regierung des Gesamtstaates bis heute. Grund: die sechs führenden Parteien konnten sich nicht einigen. Bosnien und Herzegowina dürfte vier Millionen Einwohner haben; die Zahl lässt sich nur schätzen, weil auch die für heuer geplante Volkszählung am Parteienstreit scheiterte und die Zahlen aus 1991 wegen des Krieges nur mehr wenig Aussagekraft haben. Selbst wenn die Hinweise stimmen sollten, dass Volkszählungsgesetz und Regierung noch bis Jahresende möglich sein könnten – die Erwartungen sind gering, wie eine Straßenbefragung zeigt:

„Ich erwarte nichts Besonderes, auch keine besondere Verbesserung. Die heutigen Machthaber denken viel mehr an sich selbst als an gemeinsame Interessen.“

„Auch Belgien hat keine Regierung; wird daher vielleicht auch Belgien zerfallen? Mir schein, für uns ist es leichter als für sie.“

Belgien haben bosnische Politiker immer wieder als Ausrede für ihr Unvermögen genützt, keine Regierung bilden zu können. Doch Belgien ist schon in der EU, und das sei nicht der einzige Unterschied, betont die Leiterin der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung in Banja Luka, Tanja Topic:

„Wir sind eine Gesellschaft, die noch immer sehr stark von Vergangenheit und Nationalismus durchdrungen ist. Dazu zählt auch die tiefe ethnische Teilung, und wir sind eines der korruptesten Länder der Region. Wir beginnen erst, die Herrschaft des Rechts zu pflegen, doch wir sind auch kein souveräner Staat, sondern eine Art internationales Protektorat.“

Der Chef des Protektorats heißt in Bosnien Hoher Repräsentant, eine Funktion die derzeit der Österreicher Valentin Inzko inne hat. Inzko verfügt an sich über enorme Machtfülle; sie kann jedoch immer weniger genutzt werden, weil die EU uneinig und auch ihr militärisches Rückgrat, die Friedenstruppe EUFOR, auf 1.300 Soldaten geschrumpft ist; die Rolle des Westens sieht Tanja Topic eher negativ:

„Es gibt keine Vision, und auch das Interesse an Bosnien und Herzegowina ist völlig geschwunden. Es gibt andere Probleme auch in der EU und Derzeit ist die internationale Gemeinschaft einfach völlig orientierungslos und weiß überhaupt nicht, wie das Problem des Landes gelöst werden kann, so dass sie uns hier ziemlich vertrauensunwürdig erscheint. Das ist noch ein weiteres kleines Steinchen im Mosaik von Bosnien und Herzegowina, das zur Sackgasse beiträgt, in der das Land bereits einige Jahre steckt.“

Wegen dieser Krise wird der sogenannte Fortschrittsbericht der EU, den die Kommission Mitte Oktober veröffentlicht, zum dritten Mal in Folge negativ sein. Doch damit könnten die lokalen Politiker bisher recht gut leben, erläutert Tanja Topic:

„Die Politiker sind sich sehr wohl bewusst, dass sie es nicht sein werden, die Bosnien und Herzegowina in die EU führen werden. So ist diese Perspektive sehr weit entfernt und abstrakt, und zwar auch für die Bürger. Daher besteht auch kein Druck der Öffentlichkeit. Und daher bekennen sich die Politiker auch eher nur deklarativ zum europäischen Weg, um die Ohren der internationalen Gemeinschaft zufrieden zu stellen.“

Die Internationale Gemeinschaft hat Bosnien und seine Politiker finanziell bisher immer wieder über Wasser gehalten; das sei jedenfalls der einzige Hebel, um die politische Elite zu ernsthaften Reformen zu zwingen, betont Tanja Topic:

„Ich denke, ein guter Weg wäre es, diese Geldströme abzuschneiden und die Mittel zu verringern. Ich weiß, dass den Preis auch alle einfachen Bürger zahlen müssten, doch wenn das der einzig gangbare Weg ist, dann denke ich, dass man die heimische politische Elite auf diese Weise abstrafen muss.“

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