× Logo Mobil

Bosnien und der Streit um die Volkszählung

Radio
Europajournal
Berichte Bosnien
In Europa sollen im kommenden Jahr wieder Volkszählungen stattfinden. Ihre Durchführung ist an sich eine rein technische Angelegenheit, von einzelnen Debatten über den Datenschutz abgesehen. In Bosnien und Herzegowina ist das nicht so. Dort ist die Volkszählung zwischen den drei Volksgruppen, Bosniaken, Serben und Kroaten eine hochpolitische Frage und äußerst umstritten. Denn es geht um die Frage, wie und in welcher Weise die Volkszählung das schwierige Kräftegleichgewicht beeinflussen kann, das nach dem Bosnien-Krieg im Jahre 1995 geschaffen wurde. Der Krieg mit seinen Vertreibungen hat die ethnische Zusammensetzung in Bosnien massiv verändert, und die bisher letzte Volkszählung fand von 20 Jahren statt. Doch die Daten aus dem Jahre 1991 stimmen längst nicht mehr. Für einen modernen Staat ist eine Volkszählung jedoch ebenso notwendig wie für die EU-Annäherung, die sich Bosnien zum Ziel gesetzt hat. Trotzdem ist es vor den allgemeinen Wahlen am 3. Oktober nicht gelungen, das Gesetz über die Volkszählung zu verabschieden, und Bosnien könnte das einzige Land in Europa sein, in dem im kommenden Jahr nicht gezählt werden kann. Warum das so ist, darüber hat unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz den folgenden Beitrag gestaltet.

In Bosnien und Herzegowina hat die Zahl „Drei“ eine besondere Bedeutung. So gibt es drei Völker, Bosnjaken, Serben und Kroaten, zwischen denen die Macht vom Gesamtstaat bis zur Gemeinde fein säuberlich aufgeteilt ist. Diese Völker leben in zwei Entitäten, der Republika Srpska und der Bosniakisch-kroatischen Föderation. In Bosnien bestehen auch drei Statistische Zentralämter; je eines in den Entitäten und eines für den Gesamtstaat, das 1997 geschaffen wurde. Doch das Gesetz über das gesamtstaatliche Zentralamt gibt es erst seit dem Jahr 2002. Die drei Völker konnten sich nicht über die Kompetenzverteilung einigen, und so musste der internationale Bosnien-Beauftragte seine Sondervollmachten nutzen, um das Gesetz in Kraft zu setzen. Was es bis heute nicht gibt, ist eine Volkszählung. Die Bedeutung aktueller Daten erläutert Fadil Fatic vom Statistischen Zentralamt in Sarajewo so:

„Die Volkszählung ist wichtig für jede Sozial- und Wirtschaftspolitik. Besonders wichtig ist sie für die Statistikämter, weil jede statistische Untersuchung auf der Zahl der Einwohner beruht. Hinzu kommt die Festlegung von statistischen Regionen, in denen Untersuchungen stattfinden. Das wird eine Bedingung für den Beitritt Bosniens zur EU aber auch für den Zugang zur den Beitrittsfonds sein.“

Warum die Volkszählung trotzdem umstritten ist, erklärt Boris Iarochevitch, der für die EU-Kommission in Sarajewo tätig ist, so:

„Es geht vor allem um die politische Macht. Für den Finanzausgleich gibt es einen Schlüssel. Der Gesamtstaat bekommt 10 Prozent, die größere Entität 60 und die kleiner 30 Prozent. Das ist nicht umstritten. Somit geht es vor allem um das politische Kräftegleichgewicht im Land.“

Diese Machtverteilung beruht auf der Volkszählung 1991. Damals lebten in Bosnien und Herzegowina mehr als 40 Prozent Bosniaken, ein knappes Drittel waren Serben und mit weniger als einem Fünftel bildeten die Kroaten die kleinste Gruppe. Doch der Krieg hat vor allem die Verteilung der Volksgruppen im Land drastisch verändert, und diese Veränderung würde eine neue Volkszählung widerspiegeln. Umstritten war daher, ob Volkszugehörigkeit und Religionsbekenntnis abgefragt werden sollen. Schließlich einigte man sich, dass diese Angaben nicht verpflichtend sind. Trotzdem scheiterte das Volkszählungsgesetz in der Völkerkammer des bosnischen Parlaments vor wenigen Monaten am Widerstand der Republika Srpska. Ihn begründet die Vorsitzende der Völkerkammer, Dusanka Majkic, so:

„In den Gesetzesentwurf ist ohne Grundlage dieser wundersame Paragraph 48 aufgenommen worden. Er sieht vor, dass sich die Macht in Bosnien und Herzegowina auf der Basis der Volkszählung von 1991 bildet, solange Annex 7 des Friedensvertrags von Dayton nicht völlig erfüllt ist; dieser sieht die Rückkehr aller Flüchtlinge vor. Doch nirgends steht, wann und wie festgestellt wird, dass der Annex umgesetzt ist. Für diesen Paragraphen gibt es keinen Platz im Gesetz.“

Den Vorwurf bosniakischer Politiker, die Serben wollten durch die Volkszählung die Massenvertreibungen legitimieren, weist Dusanka Majkic zurück:

„In der Republika Srpska lebten nach der Volkszählung aus 1991 600.000 Bosniaken. Jetzt leben hier 250.000 Bosniaken, das sind 41 Prozent der Vorkriegszahl. Auf dem Gebiet der zweiten Entität, der Föderation, lebten vor dem Krieg 500.000 Serben. Jetzt sind es weniger als 50.000 Serben, das sind nur zehn Prozent der Vorkriegsbevölkerung. Was die Rückgabe des Eigentums an Flüchtlinge betrifft, so hat die Republika Srpska diese Rückgabe zu hundert Prozent abgeschlossen. In der Föderation warten dagegen noch einige Tausend Anträge auf ihre Lösung.“

Geflohen und vertrieben worden sind aber auch Kroaten. Und da zeichnet der kroatische Politiker Bozo Ljubic ein düsteres Bild:

„Heute leben in der Republika Srpska weniger als zehn Prozent der Kroaten, die vor dem Krieg dort gelebt haben. Die Streichung des Paragraphen 48 im Volkszählungsgesetz hieße die Anerkennung der Ergebnisse des Krieges, der Vertreibungen, die Zementierung der zwei Entitäten und die Bildung ausschließlich ethnischer Territorien. Das wäre eine Vorstufe zur Teilung, doch Bosnien und Herzegowina ist ein Land, dessen Teilung auf friedliche Weise nur schwer möglich ist.“

Angesichts dieser Gegensätze schlugen gemäßigte Politiker der Bosniaken einen Kompromiss vor. Ihn beschreibt der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Europäische Integration, Halid Genjac, so:

„Wir waren dafür, dass die Nationalität gezählt wird und dass die Binnenvertriebenen dort in die ethnische Bevölkerungsstruktur eingetragen werden, wohin sie zurückkehren wollen. Hier kann es keine Angst vor Manipulationen mit Fristen geben. Diese Eintragung hätte nur bei der ethnischen Struktur erfolgen sollen aber nicht bei der Wohnbevölkerung entsprechend den EUROSTAT-Standards. Auch das hat die Republika Srpska abgelehnt.“

Somit konnte vor den Wahlen am 3. Oktober kein Gesetz mehr verabschiedet werden. Und was soll nach der Wahl geschehen? Dazu sagt Dusanka Majkic

„Nach den Wahlen werden wir darüber verhandeln, ob dieser Paragraph gestrichen werden kann oder dass dieser Paragraph 48 dahin geändert wird, dass das Jahr 2014 als das Jahr angesehen wird, indem die Rückkehr als abgeschlossen betrachtet wird.“

Sollte kein Kompromiss erzielt werden, will die Republika Srpska auf ihrem Territorium die Volkszählung allein durchführen. Vorbereitungen zur Zählung in ganz Bosnien haben die drei Statistikämter mit Hilfe der EU vor einem Jahr begonnen. Dabei gilt es große Probleme, die mit den Folgen des Krieges zusammenhängen. Das betrifft die Festlegung der Zähl-Kreise. Dazu sagt Radmila Cickovic, Direktorin der Statistikbehörde des serbischen Teilstaates, in Banja Luka:

„Was in Bosnien und Herzegowina fehlt ist eine gute kartographische Erfassung, denn die Grenzen, sogar die zwischen Gemeinden und im Rahmen von Ortschaften, sind noch nicht völlig klar und präzise. Wir haben in der Republika Srpska mehr als 2700 Ortschaften. Davon sind 258 Ortschaften zwischen zwei Entitäten geteilt. Nur wenn die Grenzen völlig klar sind, kann die kartographische Erfassung gut sein, die besonders wichtig ist.“

Hinzu kommen die Vorbereitung der Schulung der 15.000 Zähler, und die Ausarbeitung der Fragebögen. Selbst wenn das bosnische Parlament das Volkszählungsgesetz noch in diesem Jahr beschließen sollte, könne die Zählung frühestens im Herbst nächsten Jahres stattfinden, betont Radmila Cickovic:

„Große Probleme bereiten auch die internationalen Ausschreibungen für den Kauf der technischen Ausstattung wie Scanner und die Software. Hinzu kommen die allgemeinen Vorbereitungen. Für die statistischen Ämter wäre das eine Arbeit rund um die Uhr, damit der Herbsttermin möglich wäre.“

Gelingt das nicht, hätte Bosnien und Herzegowina auf dem Weg Richtung EU wiederum wertvolle Zeit verloren, ganz abgesehen davon, dass die Durchführung der Volkszählung im Jahre 2011 auch wegen der internationalen Vergleichbarkeit der Daten besonders wichtig ist.

Facebook Facebook