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Ein Urteil des EUGH und die massiven Folgen für Bosnien

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Berichte Bosnien
Seit Jahren wird in Bosnien und Herzegowina über die Reform der komplizierten Verfassung gestritten. Je näher das Land der EU rückt, desto unhaltbarer wird der komplizierte Staatsaufbau, der mit dem Friedensvertrag von Dayton Ende 1995 nicht zuletzt mit dem Segen von EU und USA geschaffen wurde. Alle Reformversuche scheiterten bisher; doch nun könnte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Bosnien jenen Druck erzeugen, der Bosniens Politiker zum Handeln zwingt. Unser Balkan-Korrespondent Christian wehrschütz hat das Urteil gelesen und in Sarajewo mit Experten über seine Folgen für Bosnien gesprochen; hier sein Bericht:

Im Dezember 1995 endete der Krieg in Bosnien und Herzegowina mit dem Friedensvertrag von Dayton. Darin enthalten ist eine Verfassung, sie schuf ein kompliziertes Gleichgewicht der Macht zwischen diesen drei sogenannten konstitutiven Völkern, anderseits verpflichtet sie Bosnien zu den höchsten Standards der Menschen- und Minderheitenrechte. Diese Rechte gelten für die „“anderen“, wie sie in der Verfassung genannte werden, , für nationale Minderheiten und jene die sich nicht deklarieren wollten, aber nur mit Einschränkungen. So steht eine Kandidatur für das drei Mitglieder zählende Staatspräsidium und für die Völkerkammer, die zweite Kammer des Parlaments nur Serben, Kroaten, und Bosniaken offen. Dagegen klagten der Roma Dervo Sejdic und der Jude Jakob Finci im Juli 2006 beim EUGH für Menschrechte in Straßburg. Das Urteil erging Ende Dezember 2009 und gab Sejdic und Finci recht. Bosnien wurde vom EUGH verurteilt und verpflichtet, diese Diskriminierung zu beseitigen und die Gleichheit aller seiner Bürger herzustellen. Was das konkret heißt, erläutert der Verfassungsjurist Nedim Ademovic:

"Eine Möglichkeit ist, dass das Parlament das Wahlgesetz ändert, und dass das Parlament gleichzeitig eine verfassungskonforme Auslegung für die rechtliche Basis der Änderung des Wahlgesetzes gibt. Die andere Möglichkeit ist, dass man beide Rechtsakte, sowohl das Wahlgesetz als auch die Verfassung, ändert.“

Doch damit nicht genug. Diskriminierungen auf der Basis dieser nationalen Machtverteilung gibt es auf allen Ebenen von ganz oben bis zur Gemeinde. So kann etwa nur ein Bosnjake, Kroate oder Serbe Präsident des Verfassungsgerichtshofes werden – sprich, selbst im höchsten Organ der Justiz herrscht diese Diskriminierung. Sie wird Bosnien nun wohl endgültig beseitigen müssen, ist der Grazer Josef Marko überzeugt, der drei Jahre Richter am Verfassungsgerichtshof in Bosnien war. Josef Marko:

„Der Druck auf Bosnien und die politischen Parteien wird sicherlich noch größer werden, weil ja ein Urteil des EUGH nicht nur eine Angelegenheit des Europarates ist, sondern auch von der Kommission der EU als Maßstab dafür hergenommen wird, in wie weit Bosnien die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Schuetzes der Menschen und der Staatsbürgerrechte auch erfüllt. Dass heißt, Bosnien wird massiv auch von der EU-Kommission kritisiert werden, wenn es hier nicht weitreichende gesetzliche und verfassungsrechtliche Änderungen durchführt, bis hin zur Gefahr, dass das Stabilisierungs und Assoziierungsabkommen gestoppt werden könnte."

Sechs Monate hat Bosnien Zeit, einen Aktionsplan vorzulegen; doch im Herbst finden in Bosnien Parlamentswahlen statt, und Wahljahre sind überall großen Reformen nicht förderlich. Was eine Wahl ohne vorzeitige Umsetzung des Urteils bedeutet würde, ist noch nicht klar. Sicher ist, dass Bosnien bei dieser Reform auch die massive Unterstützung des Westens brauchen wird, der eine große Mitverantwortung für dieses Staatsgebilde trägt.

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