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Bosnien nach Butmir

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14 Jahre nach dem Ende des Bosnien-Krieges mit seinen 100.000 Toten hat das internationale Interesse an Bosnien und Herzegowina spürbar nachgelassen. Doch drei Ereignisse haben das Land nun wieder auf die europäische Tagesordnung gestellt: Die vorzeige Entlassung der ehemaligen Präsidentin des serbischen Teilstaates Biljana Plavsic aus der Haft, sowie der Beginn des Prozesses gegen den ehemaligen Serben-Führer Radovan Karadic vor dem Haager Tribunal. Karadzic muss sich vor allem wegen des Massakers an etwa 8.000 Bosnjaken in Srebrenica im Jahre 1995 verantworten. Für die Zukunft Bosniens bedeutsamer war das vorläufige Scheitern der Verfassungsreform, die unter Druck von EU und USA zustande kommen hätte sollen. Denn ohne Reform des komplizierten Staatswesens ist weder ein Beitritt zur NATO noch eine weitere Annäherung an die EU möglich. In Bosnien hat unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz mit Politikern aller drei Volksgruppen gesprochen und folgenden Beitrag über Bosnien zwischen Vergangenheit und europäischer Zukunft gestaltet:

Die Gemeinde Brcko liegt an der Save im Norden von Bosnien und Herzegowina. Von den 80.000 Einwohnern sind je 40 Prozent Serben und Bosnjaken, 20 Prozent entfallen auf die Kroaten, die auch im Gesamtstaat die kleinste Bevölkerungsgruppe bilden. Im Zentrum von Brcko steht ein Denkmal für die im Bosnien-Krieg gefallenen Serben. Auch Bosnjaken und Kroaten wollen für ihre Toten ein Denkmal errichten; doch seit fünf Jahren können sich die drei Volksgruppen nicht einigen, wo diese beiden Denkmäler stehen, und ob das serbische Denkmal nicht doch versetzt werden soll. Dabei hat sich der sogenannte Distrikt Brcko unter seinem amerikanischen Oberaufseher dank klarer Führung und Verwaltung weit besser entwickelt als der Rest des Landes. Als zweites positives Beispiel nennt der Politiker Zeljko Komsic die Armeereform:

„Aus drei Armeen, die gegeneinander Krieg geführt haben, ist es gelungen, eine Armee zu formen, in der es keine politischen Probleme gibt. Diese Armee führt die Befehle aus, die sie von ihrem zivilen Oberbefehlshaber bekommt.“

Zeljko Komsic ist das kroatische Mitglied im bosnischen Staatspräsidium, dem höchsten Organ des Gesamtstaates. Ihm gehören noch ein Serbe und ein Bosnjake an. Komsic bezeichnet sich selbst als Bosnier, eine Seltenheit in diesem zersplitterten Staat. Kritisch kommentiert er die vorzeitige Haftentlassung der 79-jährigen Biljana Plavsic. Plavsic übte nach Radovan Karadzic das Amt des Präsidenten des serbischen Teilstaates aus. Vom Haager Tribunal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 11 Jahren Haft verurteilt, wurde sie nun nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe vorzeitig entlassen. Dazu sagt Zeljko Komsic:

„Warum gab es das nicht bei den NS-Kriegsverbrechern, warum wurde von ihnen keiner freigelassen. Doch für Kriegsverbrecher in Bosnien geht das; da ist das in Ordnung, da müssen wir vernünftig und human sein. Es ist nicht wichtig, wie alt diese Person ist. Die Strafe für Kriegsverbrecher muss vom ersten bis zum letzten Tag abgesessen werden.“

Dass die Entlassung von Biljana Plavsic und der Prozess gegen Radovan Karadzic zu neuen Teilungen in Bosnien führen könnten, ist eher unwahrscheinlich. Dieser Umstand muss aber nicht als positives Zeichen gewertet werden, wie der Kommentar eines jungen Bosnjaken in Sarajewo zeigt:

„Es wird zu keiner neuen Teilung führen, weil diese Teilung schon sichtbar besteht, auch ohne Karadzic und Mladic. Es wird schwer sein, dass sich die Lage hier irgendwann beruhigt.“

So hat Mostar, die Provinzhauptstadt der Herzegowina, seit einem Jahr keinen Bürgermeister, weil sich Kroaten und Bosnjaken im Gemeinderat nicht einigen können. Doch auch nach Volksgruppen getrennte Schulen gibt es weiterhin. Dazu sagt, Harris Silajdzic, das bosnjakische Mitglied des Staatspräsidiums:

„Was wird das morgen für eine Gesellschaft sein, wenn die Kinder nicht gemeinsam in eine Schule gehen können? Doch diese Kinder müssen auch unterschiedliche Lehrbücher lesen und lernen eine unterschiedlich Geschichte. Somit haben wir 14 Jahre nach dem Friedensvertrag von Dayton ein derartiges Schulwesen, und einen fragmentierten Wirtschaftsraum.“

Diesen Befund ergänzt der Ministerpräsident des serbischen Teilstaates, Milorad Dodik, um ein weiteres schlagendes Beispiel:

„Seitdem diese drei Völker hier leben, ist es nicht gelungen zu einem einzigen gemeinsamen Feiertag zu kommen, sei es ein Tag des Glücks oder der Trauer. Alle gemeinsamen Feiertage sind internationale Feiertage, wie etwa Neujahr oder der erste Mai, der Tag der Arbeit. Kein einziger Feiertag der drei einzelnen Völker wird gemeinsam gefeiert.“

Formell besteht zwischen Serben, Bosnjaken und Kroaten immerhin Einigkeit über das Ziel der EU-Mitgliedschaft. Unter diesem Dach können auch Staaten wie Belgien überleben, die ohne EU wohl schon zerfallen wären. Doch seit Sommer 2008 herrscht Stillstand auf dem Weg Richtung Brüssel, und der jüngste Fortschrittsbericht der EU müsste dem Inhalt nach eigentlich Rückschrittsbericht heißen. Das zentrale Problem liegt im komplizierten Staatsaufbau; auf vier Millionen Einwohner kommen ein schwacher Gesamtstaat und zwei Teilstaaten, die zentralistisch organisierte Republika Srpska und die bosnisch-kroatische Föderation, die aus zehn Kantonen besteht. Beide Teilstaaten, Entitäten genannt, können durch eine Art Veto-Recht Beschlüsse und Institutionen des Gesamtstaates blockieren. Das nutzte vor allem die Republika Srpska, kritisiert Harris Silajdzic:

„Das Problem liegt darin, dass das im Friedensvertrag von Dayton gedacht war als Schutz für die gesamte Entität, also für alle, die dort leben und nicht nur für ein Volk. Doch wegen der Obstruktion kehrten die Menschen nicht zurück; so ist dieses Territorium weitgehend ethnisch gesäubert geblieben; von 48 Prozent Bosnjaken und Kroaten kehrten nur 8 Prozent zurück. So berücksichtigt dieser Abstimmungsmodus nicht mehr diese beiden Völker, sondern nur ein Volk und wurde so zur ethnischen Abstimmung, die missbraucht wird.“

Mehr als 200 Gesetze sollen durch das Veto der Entitäten auf Eis liegen, doch die Republika Srpska ist nicht bereit, dieses Recht preiszugeben. Doch nicht nur deswegen scheiterte jüngst eine Initiative von USA und EU zur Verfassungsreform. Die in Butmir, im Hauptquartier der Friedenstruppe EUFOR, versammelten führenden Politiker der drei Volksgruppen lehnten die Vorschläge mehrheitlich ab. Vielen Bosnjaken gingen sie nicht weit genug, Serben und Kroaten aber zu weit. Nicht ein Mal auf die Bildung eines Landwirtschaftsministeriums auf der Ebene des Gesamtstaates konnte man sich einigen. Dazu sagt Zeljko Komsic, das kroatische Mitglied des Staatspräsidiums:

„Die Hälfte des Rechtsbestandes der EU betrifft die Landwirtschaft. Und mit wem soll die EU über Landwirtschaft sprechen. Keiner von der EU-Kommission wird mit den Landwirtschaftsministern der Republika Srpska und der Föderation und noch zusätzlich mit den Ministern der Kantone über die Umsetzung von Bedingungen sprechen. Europa will eine Adresse und außerdem sicher sein, dass etwas umgesetzt wird, was vereinbart worden ist.“

Lediglich Sulejman Tihic, der Vorsitzender der stärksten bosnjakischen Partei, war bereit, die Vorschläge von USA und EU als absolutes Minimum anzunehmen. Das vorläufige Scheitern dieser Initiative kommentiert Tihic mit Blick auf die Parlamentswahlen im Herbst 2010 so:

„Wenn wir das Wahlgesetzt nicht ändern und mit diesem Gesetz und dieser Verfassung in den Wahlkampf gehen, dann werden wir angesichts dieser politischen Lage noch eine schlechtere Zusammensetzung im Parlament haben. Dann werden dort Politiker sitzen, die überhaupt keine Vereinbarung erzielen wollen. Ich fürchte wirklich, dass diese lange Blockade der Institutionen zu einer Radikalisierung führen wird – nicht nur in der Republika Srpska, sondern auch in der Föderation und bei den Bosnjaken.“

EU und USA werden sich somit sehr anstrengen müssen, damit Bosnien und Herzegowina auf dem Weg Richtung Brüssel nicht noch weiter hinter die Nachbarstaaten zurückfällt – und damit nicht jene Einstellung stärker wird, die ein Serbe in Banja Luka so ausdrückte:

„Jeder muss seiner Wege gehen. Die Kroaten mögen sich Kroatien anschließen, die Serben an Serbien; und die Bosnjaken sollen eine Art Autonomie bilden, die international anerkannt ist. Das ist ein unmöglicher Staat, ein Staat, der nicht bestehen kann. Das hat schließlich auch Butmir gezeigt.“

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