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Vergangenheitsbewältigung und Aussöhnung am Balkan

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Seit seiner Gründung im Jahre 1993 hat das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag 160 Personen angeklagt und 57 verurteilt, zehn Verfahren wurden eingestellt, nicht zuletzt wegen Selbstmord oder Tod des Angeklagten; prominentester Fall ist der serbische Autokrat Slobodan Milosevic, der in seiner Zelle im Gefängnis des Tribunals starb. Darüber hinaus haben vor dem Tribunal 5.000 Zeugen ausgesagt, bestehen Tausende Stunden von Audio- und Videoaufzeichnungen sowie Millionen Seiten an Prozessakten. Doch welchen Effekt hatten und haben alle diese Verfahren? Haben sie tatsächlich dazu beigetragen, die Schuld zu individualisieren und kollektive Vorurteile gegen das jeweils andere Volk abzubauen? Diesen Fragen ist unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz nachgegangen, der den folgenden Beitrag über Aussöhnung und Vergangenheitsbewältigung am Balkan gestaltet hat:

Nach den Zerfallskriegen brachten die Jahre 1999 und 2000 eine Wende im früheren Jugoslawien. Ende 1999 starb Kroatiens Staatsgründer Franjo Tudjman, der sein Land durch seinen Nationalismus in die Isolation geführt hatte; und im Oktober 2000 stürze in Belgrad Slobodan Milosevic. Damit war in der Region der Weg frei für die Annäherung an EU und NATO, aber auch für politische Normalisierung und Aussöhnung. Neun Jahre später fällt die Bilanz eher ernüchternd aus; nur Albanien und Kroatien haben den NATO-Beitritt erreicht, und nur Kroatien steht in Sichtweite des EU-Beitritts. Ernüchternd fällt auch die Bewertung von Aussöhnung und Vergangenheitsbewältigung aus. Dazu sagt Refik Hodzic, der in Sarajewo für das Haager Tribunal tätig ist:

„Sogar wenn wir das Jahr 2000 als Ausgangspunkt nehmen, das Jahr, in dem auch der Kosovo-Konflikt vorbei war, so muss ich feststellen, dass es bis heute keinen Prozess der Aussöhnung gibt. Es gab keine Vergangenheitsbewältigung im ehemaligen Jugoslawien als Teil eines strategischen, systematischen, oder ernsthaft unternommenen Versuches von irgendeinem Staat in der Region. Die Bewältigung der Vergangenheit wurde Individuen und Gruppen der Zivilgesellschaft überlassen.“

Selbst reformorientiert Politiker in der Region hätten die Zusammenarbeit mit dem Tribunal ihren Wählern nur als notwendiges Übel auf dem Weg Richtung EU verkauft, nicht aber als Grundlage für Demokratie und Rechtsstaat. Die Masse der Politiker, viele Intellektuelle und Medien hätten überhaupt in den alten nationalistischen Denkmustern verharrt, kritisiert Hodzic.

Während der Region auch jeder Ansatz für ein gemeinsames Geschichtsbild fehlt, eint sie in gewisser Hinsicht die Kritik am Haager Tribunal. Nach einer Gallup-Umfrage bewertet mehr als die Hälfte der Kroaten und Mazedonier seine Rolle negativ, bei den Serben sind es fast zwei Drittel; dagegen sehen mehr als zwei Drittel der befragten Albaner das Tribunal positiv. Doch Kritik am Tribunal kommt nicht nur von Nationalisten aller Nationen; so kritisieren gerade weltoffene Serben, dass es das Tribunal trotz mehr als vierjähriger Verfahrensdauer nicht geschafft hat Slobodan Milosevic zu verurteilen. Diese Meinung teilt die Abgeordnete des kosovarischen Parlaments, die Albanerin Edita Tahiri:

„Das Haager Tribunal hätte effektiver sein müssen bei der Bestrafung der Architekten und Ausführenden von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Fehler und Verzögerungen bei der Gerechtigkeitsfindung ließen die Opfer in der Angst zurück, dass sich die Unterdrückung neuerlich ereignen könnte. Hinzukommen die noch immer ungelösten Fragen der Vermissten und zweitens verläuft die Rückkehr der Flüchtlinge sehr langsam und entmutigend.“

Doch Rückkehr setzt auch Vertrauen voraus; das fehlt bislang ebenso wie die Bereitschaft der Kosovo-Albaner Verbrechen zu zugeben, die in ihrem Namen begangen wurden. Zwar bestehen Ansätze für ein Zusammenleben zwischen Serben und Albanern, doch von einer Aussöhnung kann keine Rede sein. Dafür macht Edita Tahiri nur Serbien verantwortlich:

„Noch immer ist Serbien nicht bereit, die Realität des Kosovo und seine Unabhängigkeit anzuerkennen. Angesichts des Fehlens eines Friedensvertrages, besteht die Frage, ob sich Aussöhnung im Kosovo nach dem Krieg entwickeln konnte. Aussöhnung bedeutet, dass sich die Ansichten, Haltungen, Motivationen, Ziele und Gefühle ändern müssen und zwar in Richtung der Bildung von friedlichen Beziehungen. Die Praxis im Kosovo zeigt ein Mal mehr, dass es ohne politische Änderungen in Richtung Akzeptanz und Anerkennung zwischen Konfliktparteien, auch keine psychologischen Änderungen in eine positive Richtung geben kann.“

Diese Akzeptanz fehlt offensichtlich auch in Bosnien und Herzegowina, obwohl der Friedensvertrag 13 Jahre zurückliegt. Das zeigt, dass eine politische Normalisierung keine hinreichende Bedingung für Aussöhnung ist. Selbst von einem Verfassungspatriotismus sind Serben, Bosnjaken und Kroaten noch weit entfernt, wie jedes Fußballspiel aufs Neue beweist, in dem die so genannte bosnische Nationalmannschaft gegen Serbien oder Kroatien spielt. Erreicht wurde in Bosnien aber eine gewisse Versachlichung was die Zahl der Opfer betrifft, die nach dem Krieg je nach Konfliktpartei zwischen 25.000 und 300.000 schwankte. Wesentlich dazu beigetragen hat Mirzad Tokaca mit seinem Dokumentationszentrum in Sarajewo. Sein Ziel ist die namentliche Erfassung aller Opfer, um aus anonymen Zahlen menschliche Schicksale zu machen. Die Gesamtzahl der Opfer beziffert Tokaca mit etwa 100.000. Doch die Arbeit seines Zentrums geht weit über deren Erfassung hinaus; Mirzad Tokaca:

„Wir befassen uns etwa mit der oralen Geschichtsschreibungen; haben wir Interviews mit Personen gemacht, die einander geholfen oder sogar ihr Leben für den anderen geopfert haben. Wir wollen auch diese Dimension des Krieges zeigen. Außerdem haben wir Tausende Interviews mit Opfern gemacht, die Verbrechen überlebt haben und daher Zeugnis ablegen können.“

Diese umfassende Datensammlung soll den politischen Missbrauch von Opfern und Opferzahlen erschweren und einer sachlichen Debatte über die Geschichte des Krieges den Weg bereiten. Das gleiche Projekt soll nun auch im Kosovo und in Kroatien verwirklicht werden. Finanziert wurden und werden diese Projekte nicht zuletzt von der internationalen Gemeinschaft; deren Beitrag zur Aussöhnung in Bosnien und Herzegowina bewertet Mirzad Tokaca sehr kritisch:

„Ich habe erwartet, dass gerade Vertreter der internationalen Gemeinschaft intensiv daran arbeiten werden, in Bosnien und Herzegowina eine neue politische Elite hervorzubringen, die sich an Werten der Zivilgesellschaft orientiert. Damit meine ich eine politische Elite mit europäischen oder universalen Werten, die Menschenrechte und Grundfreiheiten vertritt. Das sind Schlüsselbegriffe, die einen Kontrapunkt zu Nationalismus und Chauvinismus schaffen. Stattdessen hat die internationale Gemeinschaft versucht, Nationalisten umzuerziehen und zu Bürgern und Patrioten zu machen; das ist nicht möglich und nur ein Zeitverlust.“

Groß ist der Zeitverlust auch in Mazedonien, das im Jahre 2001 durch den Albaner-Aufstand am Rande des Zerfalls stand. Sieben Jahre später blockierte Griechenland wegen des Streits um den Staatsnamen die Aufnahme Mazedoniens in die NATO; weder Brüssel noch Washington übten genügend Druck auf Athen aus. Was das für die Aussöhnung bedeutet, erläutert Peter Atanasov von der Universität von Skopje:

„Was Mazedonier und Albaner heute am meisten verbindet ist der Weg Richtung NATO und EU. Doch dieser Weg ist blockiert; wir können nicht weiter. Das höchste Bindemittel, das die mazedonische Gesellschaft an beiden Seiten verbinden kann, können wir nicht verwenden, es ist uns verboten.“

Führend bei der Suche nach einem Kompromiss im Namensstreit sind die USA, während Brüssel kaum eine Rolle spielt. Doch gerade die EU-Perspektive sind der entscheidende Reformmotor für die Länder des ehemaligen Jugoslawien und für die Stabilisierung der Region. Denn die albanische und die serbische Frage werden erst dann endgültig gelöst sein, wenn Staatsgrenzen Völker nicht mehr trennen; und das ist für die Aussöhnung ebenso wichtig wie der Abbau von Vorurteilen, der auch am Balkan im Elternhaus und in den Schulen beginnen und von Europa stärker gefördert werden muss.

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