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Interview mit Haris Silajdzic über die Lage in BiH nach Karadzic

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Berichte Bosnien


Die Verhaftung des mutmaßlichen bosnisch-serbischen Kriegsverbrechers Radovan Karadzic hat ein Land kurzfristig wieder zurück auf die internationale mediale Landkarte gebracht, um das es sonst bereits recht still geworden ist – gemeint ist Bosnien und Herzegowina. In der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik verlaufen viele Reformen sehr langsam, obwohl jüngst auch Sarajewo mit Brüssel ein Abkommen über die EU-Annäherung unterzeichnen konnte. Grund für das unbefriedigende Reformtempo ist das komplizierte Staatswesen, in dem Bosnjaken, Kroaten und Serben in zwei Teilstaaten mit einem schwachen Zentralstaat leben. Dass dieses Staatswesen reformiert werden muss, darüber sind sich in Bosnien alle einig, doch wie Bosnien tauglich für den EU-Beitritt werden soll, das ist umstritten. Klar für einen dezentralisierten, aber gestärkten Staat, ist der bosnjakische Politiker Haris Silajdzic. Silajdzic war während des Krieges Außenminister und ist nun Mitglied des aus drei Personen bestehenden Staatspräsidiums. Über Bosnien nach Karadzic hat in Sarajevo unser Korrespondent Christian Wehrschütz mit Haris Silajdzic gesprochen hier sein Bericht:

Der 63-jährige Haris Silajdzic hat wie alle Bosnjaken die Verhaftung von Radovan Karadzic mit Befriedigung aufgenommen. Zum Prozess hat Silajdzic klare Forderungen an das Haager Tribunal, wobei durchaus kritische Untertöne mitschwingen. So lehnt Silajdzic eine Konzentration des Verfahrens auf das Massaker von Srebrenica ab, wie das etwa von der Anklage überlegt wird, um die Prozessdauer zu verkürzen. Seine Forderungen formuliert Silajdzic so:

"Ich erwarte, dass neue Tatsachen ans Licht kommen, und dass die Dokumente dem Tribunal zur Verfügung gestellt werden. Denn bisher wurde ein Teil dieser Dokumente zurückgehalten. Das war im Prozess gegen Milosevic der Fall, wo es diese Vereinbarung zwischen Serbien und dem Tribunal gab. Außerdem sollten wir durch das Verfahren etwas mehr darüber erfahren, was sich in anderen Teilen Bosniens, etwa in Ost-Bosnien, ereignet hat. Denn ich glaube, dass auch dort Völkermord stattgefunden hat, und nicht nur in Srebrenica. Das werden viele Tatsachen nun beweisen."

Nichts geändert habe die Verhaftung von Karadzic an der politischen Realität in Bosnien und Herzegowina. So bestünden die Folgen von Vertreibung und Völkermord in Bosnien weiter fort, betont Haris Silajdzic:

"Karadzic ist zwar verhaftet, doch sein Projekt lebt noch immer fort. Der Beweis dafür ist, dass noch immer eine halbe Million Flüchtlinge außerhalb von Bosnien leben, und nur acht Prozent Nicht-Serben in die Republika Srpska zurückgekehrt sind. Darum geht es; und die internationale Gemeinschaft ist verpflichtet, diese Folgen des Völkermordes zu beseitigen. Daher muss der Friedensvertrag von Dayton umgesetzt werden, der in seinem entscheidenden Annex 7 nicht umgesetzt wurde. Dieser Annex sieht die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat vor."

Doch eine umfassende Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen ist 12 Jahre nach dem Krieg nicht mehr zu erwarten. Das wissen auch Silajdzic und die Bosnjaken, für die jedoch die Existenz des serbischen Teilstaates ein Symbol für den Völkermord ist. Silajdzic ist auch daher für eine umfassende Reform des bosnischen Staatswesens. Ihre Notwendigkeit ist unbestritten. So gibt es in dem 3,8 Millionen Einwohner zählenden Bosnien mehr als 200 Minister, zehn Kantone mit Regierungen sowie die Regierungen des serbischen und des bosnisch-kroatischen Teilstaates und des Gesamtstaates. Dieser hat etwa kein Landwirtschaftsministerium, ein Schlüsselressort für die Beitrittsverhandlungen mit der EU. Zur Staatsreform sagt Silajdzic:

"Bosnien und Herzegowina muss aus Regionen bestehen, die vor allem auf wirtschaftlichen und nicht auf ethnischen Kriterien bestehen. Das entspricht der Natur Bosniens, während die ethnische Teilung künstlich und auf nicht funktionell ist. Wir haben ein ausreichendes wirtschaftliches Potential, vor allem auf dem Energiesektor, um gut leben zu können. 60 Prozent unserer Wasserkraft sind ungenützt. Doch das Staatswesen ist nicht funktionell und das müssen wir ändern."

Doch bisher fanden Bosnjaken, Kroaten und Serben keinen Kompromiss. Wie tief die Spaltung ist, zeigte jüngst auch die Fußball-EM. Beim Spiel zwischen Kroatien und der Türkei hielten die bosnischen Kroaten natürlich für Kroatien, die Bosnjaken jedoch für die Türkei. Nach der Niederlage Kroatiens kam es in Mostar zu Ausschreitungen zwischen den Anhängern. Daher sagt auch Haris Silajdzic:

"Selbst wenn wir eine gute Wirtschaft haben werden, haben wir noch immer eine fragmentierte Gesellschaft. Die Reintegration der Gesellschaft ist wahrscheinlich die schwierigste Aufgabe, die vor uns steht. Denn die ethnischen Teilungen, die noch immer lebendig sind, sind ethnische Teilungen auf der Basis von Territorien und nicht nur ethnische Teilungen. In einem derartigen System ist es sehr schwer, von Demokratie zu sprechen."

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