Srebrenica: vom Massaker zur tristen Gegenwart
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Vor dem Krieg war Srebrenica eine überdurchschnittlich entwickelte Stadt in Bosnien. Industrie, der Abbau von Zink und Bauxit sowie die Forstwirtschaft sorgten für Wohlstand unter den 37.000 Einwohnern, die mehrheitlich Bosnjaken waren. Doch bereits nach Kriegsausbruch war die Situation in der Stadt prekär, die eine bosnjakische Enklave in der Republika Srpska, der bosnischen Serben-Republik bildete. Wie schwierig die Versorgung 1992 war, schildert Surma Sahmerovic, die Krieg und Massaker in Srebrenica überlebt hat:
„Die größten Probleme hatten Alte und Kinder, denn sie konnten das nicht annehmen, was man ihnen zu essen bot. Das war Brot aus gemalenen Maisspindeln, aus den gemalenen Kätzchen des Haselnussstrauches. Glücklich war, wer im Zimmer Roggen, Hafer, Gerste oder anderes Getreide hatte, um Brot zu backen, von Salz ganz zu schweigen. Jeder Raum, jede Garage war ein Unterschlupf für eine Familie. Jedes Fenster in der Stadt hatte einen Rauchfang.“
Im April 1993 wurde Srebrenica zur UNO-Schutzzone erklärt. Knapp außerhalb der Stadt in Potocari wurden niederländische Blauhelme stationiert. Die Katastrophe begann zwei Jahre später am 6. Juli 1995 mit dem Angriff von Militär- und Polizeieinheiten der Republika Srpska. Am 11. Juli bombardierten NATO-Flugzeuge zunächst serbische Artilleriestellungen; doch die Angriffe wurden eingestellt, weil die Serben gedroht hatten, die niederländischen Blauhelme zu töten. Srebrenica fiel und bis zum Abend des 11. Juli hatten sich in Potocari etwa 25.000 Bürger versammelt, die von der machtlosen UNO Schutz und Hilfe erwartete. Die Versorgungslage der war unbeschreiblich; schließlich begannen die Serben am 12. Juli mit dem Abtransport; doch nur Frauen und Kleinkinder durften gehen, Männer und Jugendliche wurden ausgesondert. In Potocari war auch Sabaheta Fejzic mit ihrem 16-jährigen Sohn. Sie wurde am 13. Juli deportiert. Sabaheta Fejzic:
„Als ich zu den Serben kam, traten sie mir sofort in den Weg, ergriffen mich und sagten meinem Kind, es solle nach rechts ich aber nach links gehen. Ich bat sie, nehmt mir mein Kind nicht weg, es ist mein einziges, ich habe keine anderen Kinder mehr. Wenn jemand gehen muss, nehmt mich, doch lasst mein Kind. Nichts half mir. Doch sie entrissen mir mein Kind. .... Ich konnte nicht weinen, doch mein Kind weinte. Niemals werde ich die großen Tränen vergessen, die sich von seinen dunklen, olivgrünen Augen über seine weißen Wangen ergossen. Als ich sah, dass ich nichts mehr tun konnte, fiel ich auf die Knie, faltete die Hände und bat: tötet mich. Doch einer von ihnen fasste mich und warf mich in den LkW, der sofort losfuhr.“
Sabaheta Fejzic hat ihren Sohn bis heute nicht gefunden; auch ihr Mann ist nach wie vor vermisst; er hatte versucht durch die Wälder vor den serbischen Truppen zu fliehen. Opfer des Massakers wurden nicht nur die Bosnjaken von Potocari. Denn bis zu 15.000 Bosnjaken versuchten sich in langen Kolonnen auf anderen Wegen Richtung Tuzla durchzuschlagen. Immer wieder angegriffen, fielen viele auf der Flucht; doch viele wurden gefangen und von den Serben ermordet. Das Massaker endete am 19. Juli, zwei Tage später zogen die Blauhelme aus der menschenleeren Stadt Srebrenica ab. Dokumentiert haben die Massenerschießungen nicht nur Überlebende, das Haager Tribunal, sondern auch ein Bericht der Republika Srpska, der im Juni 2004 veröffentlicht wurde. Erste Exhumierungen von Massengräbern begannen 1996. Im Zentrum für die Identifizierung der Opfer in Tuzla lagern derzeit mehr als 3.000 Leichsäcke, die in drei Kategorien eingeteilt werden. Wie schwierig die Arbeit der forensischen Anthropologen ist, erläutert der Leiter des Identifizierungsprojektes Zlatan Sabanovic so:
„Die erste Kategorie umfasst komplette oder relativ vollständige menschliche Überreste, wo in einem Leichsack mehr als 75 Prozent der Knochen vorhanden sind. Die zweite Kategorie umfasst Säcke, in denen sterbliche Überreste einer Person enthalten sind; da gibt es Knochen des Ober- und Unterkörpers, Schädel, Hand- und Fußknochen. Doch die dritte Kategorie ist die schwierigste; sie umfasst etwa 14 Prozent des Bestandes; das sind gemischte Teile verschiedener Körper von 10 bis 20 Personen.“
Erst Ende 2001 kam auch der genetische Fingerabdruck, die DNS-Analyse, zum Einsatz. Das hat das Verfahren drastisch beschleunigt und bisher konnten etwa 2.000 Opfer identifiziert werden, darunter sind nur zwei Frauen. Die Mehrheit liegt in der Srebrenica-Gedenkstätte bei Potocari begraben. Um ihr Andenken kümmern sich auch die „Mütter von Srebrenica“, eine Vereinigung jener Frauen, die Opfer zu beklagen haben. Geleitet wird die Gruppe von Hatidja Mechmedovic. Sie macht nicht nur die bosnischen Serbenführer Ratko Mladic, Radovan Karadjic und ihre Mittäter verantwortlich:
„So sehr sich auch die Verbrecher von Srebrenica für ihre Taten verantworten müssen, so sehr müssen sich auch die dafür verantworten, die sie geschützt haben. Denn wir waren unter dem Schutz der UNO und wurden ausgelöscht. So leicht haben sie uns verkauft, nicht einmal ein Huhn würde man so leicht verkaufen, sagt man bei uns. Denn selbst um ein Huhn könnte man sich noch stärker streiten, denn alles hat schließlich sein Gewicht. Doch ein Menschenleben müsste eigentlich mehr Gewicht haben als alles andere. Und hier waren es mehr als 10.000, die sie so leicht verkauft haben.“
Ihre Lebensaufgabe beschreibt Hatidja Mechmedovic so:
„Wenn wir Mütter, wir Opfer nicht als lebende Zeugen übrig geblieben wären, würden sie die Zahl der Opfer verringern, wäre das nicht als Völkermord anerkannt, alles wäre so als wäre nichts gewesen. Ich bin ein lebender Zeuge geblieben, denn ich hatte zwei Kinder, einen Mann, zwei Häuser, hatte eine Familie, zwei Brüder, jetzt habe ich sie nicht mehr. Ich hatte zwei Nichten und Neffen, jetzt habe ich sie nicht mehr. Eine Nichte liegt hier begraben und im Juli wird hier mein älterer Bruder begraben.“
Ein steinernes Zeugnis des Massakers ist Srebrenica selbst, denn im Zentrum sind noch immer Kriegsschäden sichtbar. Denn bis zum Jahre 2000 gab es keine internationale Hilfe, weil der damals serbische Bürgermeister die Rückkehr Vertriebener nicht gestattete. Nun sind etwa 4.000 zumeist ältere Vertriebene zurückgekehrt, werden Wasser und Kanalisation repariert; doch jedes dritte Dorf der Gemeinde hat noch keinen Strom und von 300 Kilometern Landstraßen sind nur 20 asphaltiert. Zum Wiederaufbau sagt der Bürgermeister von Srebrenica Abdurahman Maljkic:
„Vor allem dort, wo die Bosnjaken lebten wurden viele Wohnungen zerstört. Von mehr als 9.100 Wohnungen und Häusern wurden 6.300 zerstört. Derzeit sind etwa 1500 wieder aufgebaut worden, um vor allem die Rückkehrer unterbringen zu können. Das reicht bei weitem noch nicht aus. Doch auch die übrige Infrastruktur ist noch ein Problem.“
Ein weiteres Problem sind hohe Arbeitslosigkeit und unterentwickelte Landwirtschaft. Hier hilft die UNO durch die Einrichtung von Musterfarmen und Hoffnung gibt es auch, weil Slowenen nun ein Werk für Autoersatzteile bauen und so 100 neue Arbeitsplätze schaffen. Trotzdem wird Srebrenica noch lange unter den Folgen des Krieges leiden. Dazu sagt Bürgermeister Abdurahman Maljkic
„Vor dem Krieg sind im Jahre 1991 allein 11.000 Kinder in Srebrenica in die Schule gegangen. Heute haben wir nicht ein Mal so viele Einwohner. Das zeigt auch, wie sich die Altersstruktur geändert hat. Nun haben wir etwa 1.100 Kinder, die hier in die Schule gehen, das sind nur 10 Prozent der Vorkriegszahl. Auch die Bevölkerungsstruktur, die vorwiegend weibliche Bevölkerung, erfordert besondere Maßnahmen, bei der Restrukturierung der Wirtschaft. Denn vor allem den allein erziehenden Müttern muss man helfen, damit sie in Srebrenica auch arbeiten können.“
Doch trotz aller materiellen Sorgen ist auch zehn Jahre nach dem Massaker für viele Mütter nach wie vor die Ungewissheit das Schlimmste. Dazu sagt Sabaheta Fejzic
„Ich suche auf jede mögliche Weise meinen Sohn. Ich bin bei der Wahl der Mittel nicht wählerisch, schone mich nicht. Auf diese Weise suche ich auch meine Freunde und Nachbarn. Jedes Massengrab suche ich auf, versuche dort irgendein Kleidungsstück meines Sohnes oder Mannes zu finden. Ich schaue mir auch alle Filme und Bilder an, ich muss sie sehen und flüchte nicht davor.“