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Reportage aus Gorazde

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Berichte Bosnien
Während der Zerfallkriege im ehemaligen Jugoslawien erlangte auch die Stadt Gorazde im Osten Bosniens traurige Berühmtheit. Mehr als drei Jahre belagerten serbische Truppen die Stadt, die jedoch – anders als Srebrenica – von den Bosnjaken gehalten werden konnte. 60.000 Bewohner waren während des Krieges eingeschlossen. Etwa 3500 Zivilisten wurden nach bosnischen Angaben getötet, obwohl die UNO Gorazde zur Schutzzone erklärt hatte. Nach Kriegsende wurde es wieder still um die Stadt, die auch acht Jahre später noch mit vielen Problemen kämpft, die der Krieg hervorgerufen hat. Doch trotz aller Schwierigkeiten gibt es auch Lichtblicke. Das Zusammenleben von muslimischen Bosnjaken und Serben normalisiert sich langsam und auch die Zusammenarbeit mit den Umlandgemeinden kommt schrittweise in Gang. Unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz hat die Stadt Gorazde jüngst besucht und folgendes Bild über die Lage gezeichnet:

Wie ein Flaschenhals ragt die vorwiegend von muslimischen Bosnjaken bewohnte Region von Gorazde in das Gebiet der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina hinein. Den Serben gelang es im Krieg nicht, diesen Flaschenhals zu schließen und so blieb die ostbosnische Stadt, die etwas mehr als 100 Kilometer von Sarajevo entfernt ist, dem bosnisch-kroatischen Teilstaat erhalten. Der Weg nach Gorazde ist auch heute noch gefährlich, doch nicht aus militiärischen Gründen. Immer wieder liegen auch große Felsbrocken auf der kurvenreichen Straße, die vom Angelände heruntergefallen sind. Straßenmeistereinen arbeiten nur schlecht und langsam und in ganz Bosnien gibt es nur 16 Kilometer Autobahnen. In Gorazde selbst sind die Straßen gut doch nach wie vor erinnern einige noch nicht wieder aufgebaute Häuser an die schwere Zeit des Krieges, die Ahmo Adzovic so beschreibt:

„Wenn ich Ihnen sage, dass wir pro Haushalt nur ein Kilowatt Strom für 24 Stunden hatten und wir damit nur Glühbirnen und nichts anderes verwenden konnten, dann gibt das eine Vorstellung über die damalige Lage der Stadt. Dabei sprechen wir nicht von den Zerstörungen der Gebäude und Wohnungen, der gesamten Infrastruktur. Die Lage war sehr schwer, heute ist das Bild bereits ein ganz anderes.“

Ahmo Adzovic verkörpert dieses andere Bild wie kein zweiter. Er ist Direktor der Firma Bekto International, die einem Unternehmen aus dem Burgenland gehört. In Gorazde produziert Bekto unter anderem Druckgussformen für Plastik- und Kunststoffteile sowie Verschlüsse für Waschmittel und Plastikflaschen aller Art. Das Werk ist modernst eingerichtet und die diversen Produkte werden auf Computern gezeichnet und entworfen. Acht Millionen Euro hat das Stammwerk aus dem Burgenland seit 1997 in den Wiederaufbau und den Ausbau des Werks in Gorazde investiert. Die 110 Mitarbeiter arbeiten in vier Schichten und verdienen durchschnittlich 220 Euro im Monat. 85 Prozent der Produkte werden exportiert. Doch ist dieser Betrieb nicht nur die berühmte Ausnahme, die die triste Regel in Gorazde bestätigt? Dazu sagt Direktor Ahmo Adzovic:

„Ich würde nicht sagen, dass diese Firma hier wie ein Tropfen Wasser im Meer ist, doch dieses Unternehmen ist mit seinen Eigenschaften wie der Organisation der Produktion und der Arbeit anderen Unternehmen weit voraus. Doch dieses Unternehmen ist auch wie ein Embryo für die Möglichkeiten der Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Wirtschaft und ein Beweis dafür, dass wir hier mit sehr guter Qualität produzieren können. Diese Produktion kann sich auf westlichen Märkten behaupten. Bosnien-Herzegowina hat genug qualifizierte Arbeitskräfte, Erfahrung und auch dieses Unternehmen ist ein Beweis dafür.“

Doch diesen Beweis müssen andere Betriebe in Gorazde noch antreten, denn Gorazde ist derzeit der ärmste Kanton in der bosnjakisch-kroatischen Föderation. Weitere ausländische Firmen gibt es nicht und danieder liegen die einst florierenden chemischen und metallverarbeitenden Betriebe. Das gilt auch für die Rüstungsindustrie, die es den Bosnjaken im Krieg ermöglichte, die Stadt zu halten. So beschäftigte die Firma Pobeda, die Sprengmittel erzeugt, einst 3500 Mitarbeiter, heute sind es nur mehr 500. Von der Vorkriegsbevölkerung lebt nur mehr ein Drittel in der Stadt, ein weiteres Drittel lebt irgendwo in Bosnien und das dritte Drittel lebt über die Welt verstreut. Die, die in Gorazde geblieben sind, kämpfen oft mit großen Problemen, die der Sozialminister des Kantons Gorazde, Nazif Uruci, so erläutert:

„Der durchschnittliche Warenkorb für einen Vier-Personen-Haushalt kostet 230 Euro. Doch die höchste Sozialhilfe, die eine Familie überhaupt bekommen kann, liegt im Kanton bei 60 Euro. Oft ist das für Familien die einzige Einnahmequelle. Das zeigt, dass das nur ein Viertel dessen ist, was für ein normales Leben erforderlich ist.“

Was das konkret bedeutet, zeigt ein Blick auf die Bevölkerungsstruktur der Stadt. Nazif Uruci:

„Die Stadt Gorazde hat heute etwa 22.000 bis 23.000 Einwohner. Davon sind 4.000 Pensionisten, mehr als 4.000 sind Empfänger verschiedener Arten von Sozialhilfe, mehr als 4.000 sind arbeitslos. Wenn man das zusammenzählt, so ist die Lage unter dem Minimum, das für ein normales Leben erforderlich ist.“

Somit haben nur etwa 4.000 Personen, ein Viertel der Stadtbewohner, einen Arbeitsplatz, doch weder Gemeinde noch Kanton haben ausreichend Budgetmittel, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Denn das Acht-Millionen-Euro-Budget des Kantons deckt nicht ein Mal die Verwaltungskosten, so dass Zuschüsse aus Sarajevo benötigt werden. Daher sagen die Bürger einhellig:

Frau:

„Das größte Problem in Gorazde ist die Arbeitslosigkeit. Die Jugend verlässt die Stadt, eine Perspektive gibt es in Gorazde nicht, man muss der Jugend die Möglichkeit geben zu arbeiten und in ihrer Stadt zu bleiben.“

Mann:

„Das größte Problem in Gorazde ist die Arbeitslosigkeit. Die Jugend hat keine Arbeit, die Wirtschaft funktioniert nicht. Das zweite Problem, das noch immer nicht gelöst ist, ist die Wasserversorgung. Es ist schwer, in Gorazde zu leben.“

Zum Zusammenleben mit den Serben heißt es dagegen:

Frau:

„Ich habe keinen Kontakt mit ihnen, doch ich denke dass ein Zusammenleben möglich ist.“

Mann:

„Was das Zusammenleben betrifft, so schaut man nicht mehr darauf, woher eine kommt, wer wie ist, welchen Namen er hat. Wichtig ist das wirtschaftliche Moment. Die Menschen versuchen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Was das Zusammenleben betrifft, so normalisiert es sich von Tag zu Tag mehr.“

Alltagsprobleme, die alle Volksgruppen gleichermaßen treffen, treten somit zunehmend in den Vordergrund, während Hass und Misstrauen zwischen Bosnjaken, Serben und Kroaten langsam an Bedeutung verliert, obwohl die Flüchtlingsrückkehr in Gorazde, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen nur sehr langsam verläuft. Die neuen Prioritäten zeigen sich auch auf Gemeindeebene. Gorazde ist das geographische Zentrum für drei bosnjakische und sieben serbische Gemeinden. Sie bildeten im April 10 Teams, die Mittel und Wege finden sollen, um die wirtschaftliche und soziale Lage, sowie Wasserversorgung und Umweltschutz zu verbessern. Dazu sagt der Sozialminister des Kantons Gorazde Nazif Uruci:

„Die Tatsache, dass in dieser Region zwischen den Gemeinden keine Tabuthemen bestehen, dass es regelmäßige Kontakte und gemeinsame Aktivitäten gibt, spricht dafür, dass sich die Lage im Sinne einer Zusammenarbeit bei gemeinsamen Projekten verbessert. Das betrifft etwa eine geplante gemeinsame Mülldeponie oder den Bau einer Straße, die den Weg nach Sarajewo kürzer machen soll.“

Verringert hat die Distanz zwischen den Menschen auch die Einführung neuer Autonummern in Bosnien-Herzegowina. Denn die Kennzeichen sind so gestaltet, dass aus der Autonummer der Herkunftsort des Fahrzeuges nicht mehr abgelesen werden kann. Das hat nationale Spannungen und willkürliche Polizeikontrollen auch im Straßenverkehr reduziert. Der Straßenverkehr führt auch zu Zufallsbekanntschaften, die das Misstrauten zwischen den Völkern abbauen. So bleibt unser Auto auf der Rückfahrt von Gorzade nach Sarajevo im dichten Schneetreiben auf einem steilen Straßenstück mangels passender Schneeketten liegen. Doch der österreichische Journalist muss nach Sarajevo und wird von einem LkW mitgenommen, in dem zwei Männer sitzen. Der Fahrer ist Bosnjake, der Beifahrer ist ein serbischer Autostopper. Er hat dem LkW-Fahrer auch beim Anlegen der Schneeketten geholfen. Das Gesprächsklima ist freundlich und die beiden Männer tauschen schließlich die Telefonnummern aus, um die Unterhaltung bei einem Kaffee gemütlich fortsetzen zu können. Erst wenn diese Art des Umgangs miteinander wieder die Regel geworden ist und die Bevölkerung eine wirtschaftliche Perspektive sieht, werden Gorazde und ganz Bosnien das schwierige Erbe des Krieges wirklich überwunden haben.

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